Süddeutsche Zeitung

Olympia:IOC verheimlichte positive Dopingproben

  • Ein Bericht der ARD offenbart, dass es bei Nachtests der Olympischen Spiele 2008 in Peking positive Dopingproben jamaikanischer Sportler gegeben hat, unter anderem von den Sprintern, die fünf Goldmedaillen gewannen.
  • Als das IOC vor Rio von den positiven Dopingtests erfuhr, legte es die Ermittlungen allerdings geräuschlos zu den Akten.
  • Die Tester fanden Spuren von Clenbuterol, einem Klassiker des Pharmabetrugs.

Von Thomas Kistner und Johannes Knuth

Es war im vergangenen Mai, die Sommerspiele von Rio krochen näher, als der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees ein paar grundsätzliche Worte an die Öffentlichkeit richtete. Thomas Bach erzählte von rund 454 Dopingproben der Peking-Spiele von 2008, die sein IOC noch einmal getestet hatte. Auf dem Radar seien vor allem Athleten gewesen, die nun auch wieder in Rio starten wollten, und, tolle Neuigkeit: Man habe viele Betrüger enttarnt, bevor sie womöglich wieder betrügen - 31 von ihnen hätten die Fahnder bereits im olympischen Anreiseverkehr ausgemacht.

Und damit nicht genug: Bach versprach der olympischen Festgemeinde, auch eingefrorene Proben der Spiele von London 2012 zu durchleuchten, mit "allerneusten wissenschaftlichen Analysemethoden". Er sprach von einem "kraftvollen Schlag", von Betrügern, die "keinen Platz haben, um sich zu verstecken". Und weil das IOC die Integrität seiner Leistungsmesse so prächtig geschützt habe, sagte Bach noch, habe man sichergestellt, "dass die olympische Magie sich in Rio de Janeiro entfalten kann".

Mit der Magie verhält es sich nur leider so: Sie ist bisweilen eine Illusion. Gerade bei Olympischen Spielen.

Ein Bericht der ARD zeigt jetzt, dass der Weltsport just vor Bachs blumiger Ansprache im Frühling 2016 bereits den nächsten Schlag gegen seine Glaubwürdigkeit eingesteckt hatte - ausgeteilt von den höchsten Regelwächtern selbst. Denn bei den viel gepriesenen Nachtests von Peking waren noch mehr Positivfälle aufgetaucht als vom IOC verkündet: unter anderem von der jamaikanischen Olympia-Mannschaft, die 2008 die Kurzstrecke der Leichtathletik beherrscht hatte, sie gewann fünf Goldmedaillen.

Spuren von Clenbuterol

Die Tester fanden Spuren von Clenbuterol, einem Klassiker des Pharmabetrugs. Namen sind keine bekannt, aber die Fahnder spürten die Substanz laut ARD auch in Proben von "männlichen Sprintern der Karibikinsel" auf. Als IOC und Wada vor Rio von den positiven Clenbuteroltests erfuhren, legten sie die Ermittlungen zu den Akten, geräuschlos. Was nahelegt, dass es Bachs Ringe-Clan gar nicht so sehr um eine gewissenhafte Anti-Doping-Mission ging.

Sondern um eine Illusion.

Das Epizentrum der Affäre befindet sich im Dopingkontrolllabor in Lausanne, nicht zum ersten Mal. Dort orchestrierte das IOC im Frühjahr 2016 seine Nachtests. Die schlugen auch bei den jamaikanischen Sprintern an. Richard Budgett, der Chefmediziner des IOC, gestattete es dem Labor aber nicht, die Funde formal zu bestätigen und die zuständigen Fachverbände zu informieren. Sprich: Das IOC hatte sich als Trennwand zur Außenwelt aufgebaut, um positive Proben wie negative zu behandeln, erst einmal. Ein Prozedere, das "klar gegen die Regeln verstößt", sagt Detlef Thieme vom Dopingkontrolllabor in Kreischa. Zumal die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) für Clenbuterol keinen Grenzwert festlegt. Jeder Fund gilt als Positivfall, es muss weiter ermittelt werden. Kann es Zufall sein, dass dies just mit Blick auf Jamaikas Spaßsprinter unterblieb?

Die Meisterläufer von der Karibikinsel hatten dem olympischen Bilderkino in den vergangenen Jahren einige magische Momente zugeführt, Peking 2008 war so etwas wie die Uraufführung gewesen. Über 100 Meter etwa, als der junge Usain Bolt dem Feld derart weit enteilte, dass er auf den letzten 30 Metern schon mal ein paar Ansichtskarten hätte schreiben können. Nach 9,69 Sekunden joggte er ins Ziel, Weltrekord. Insider, darunter ehemalige jamaikanische Funktionäre, bemängelten aber immer wieder, dass die heroischen Taten nicht von einem robusten Anti-Doping-System begleitet wurden, bis zuletzt (siehe Kasten). Zumal im Sprint-Ressort, das vor und nach Peking immer wieder von Dopingfällen erschüttert worden war.

Das IOC bestätigte nun, dass es die Clenbuterol-Nachtests von Peking tatsächlich als negativ wertete. Es seien "mehrere Athleten aus mehreren Ländern und mehreren Sportarten" aufgefallen, mit "sehr niedrigen Clenbuterol-Werten". Allerdings seien alle Sportler "unschuldig", denn: Die Werte liegen laut IOC "in einem Bereich, der durch möglicherweise verunreinigtes Fleisch hervorgerufen werden kann". Kann - aber nicht muss. Man habe die Ergebnisse dann jedenfalls an die Wada weitergeleitet, die habe nach "sorgfältiger Prüfung" entschieden, dass es sich kaum um Missbrauch handele.

Oliver Niggli, Generaldirektor der Wada, schilderte die Lage etwas anders: "Mir ist bekannt, dass es jamaikanische Fälle mit sehr geringen Clenbuterol-Mengen gibt", sagte er der ARD. Ja, ein Verfahren sei mit geringen Erfolgschancen behaftet. Man könne auch nicht ausschließen, dass die Athleten kontaminiertes Fleisch aßen, welches die Substanz in die Sportlerkörper brachte. Nur: Das reicht nicht für einen Blanko-Freispruch wie den des IOC, räumt Niggli ein: "Wenn man dopt, ist Fleischkontamination eine perfekte Ausrede, sofern man erwischt wird. Aber so ist es eben." So ist es eben?

"Besteht der Verdacht, dass Clenbuterol durch den Verzehr von Fleisch in den Körper gelangt ist, ist der Athlet in der Pflicht, dies nachzuweisen", sagte die nationale Anti-Doping-Agentur dem sid. Und jetzt?

Team Jamaika hatte eigenen Koch in Peking

Es ist ein finsteres Bild: Oberste Sportwächter, die Positivfälle nicht weiterverfolgen, das Testprotokoll verletzen, sich auf verunreinigtes Fleisch stützen, ohne zusätzliche Belege. Was umso merkwürdiger ist, da das IOC die Kantinen in Peking damals strikt überwachte, weil man eben das fürchtete: dass Athleten sich mit kontaminiertem Fleisch belasten könnten. Die Weltgesundheitsorganisation bestätigte im Nachgang: Alles bestens. Die Jamaikaner hatten, kurz vor den Spielen, sogar eigene Lebensmittel ins Trainingslager nach China geschafft, einen Koch engagiert. Und als der Ruderer Adam Seroczynski aus Polen nach den Spielen in Peking mit Clenbuterol aufflog, wurde er für zwei Jahre gesperrt. Das IOC argumentierte vor dem Internationalen Sportgerichtshof: Dass die Substanz durch kontaminiertes Fleisch in einen Athletenkörper gelangt, sei "unwahrscheinlich" und überhaupt "sehr selten".

Was offenbar aber vorrangig für polnische Ruderer gilt, nicht für nachgetestete Athleten. Darunter Sprinter aus Jamaika.

Einer, der eine plausiblere Erklärung anregt, ist Angel Heredia. Der Mexikaner beschaffte Spitzenathleten jahrelang Schnellmacher, Wachstumshormone, Epo, Testosteron. Bis ihn das FBI als Kronzeugen engagierte. Jamaika? War da was? Klar, sagte Heredia nun der ARD, "Trainer aus Jamaika haben mich kontaktiert und gefragt, ob Clenbuterol für Sprinter geeignet sei". Unter anderem: 2007 und 2008, vor Olympia in Peking. Laut Heredia nutzten die Jamaikaner die Substanz, damit ihre Athleten besser Sauerstoff aufnahmen, besser regenerierten. Clenbuterol, bestätigt Anti-Doping-Experte Fritz Sörgel auf Anfrage, sei ein "Rundum-Dopingmittel", es verbrennt Gewicht, ohne die Muskulatur zu schädigen, es stimuliere, auch die Psyche. Ob die Jamaikaner in Peking mit Clenbuterol dopten? Heredia glaubt: "Hundertprozentig."

So bleiben drängende Fragen. Und eine brisante Gemengelage. Das IOC war im Zeitraum der Nachtests bereits von Affären umzingelt, Russlands Leichtathleten waren vom Weltverband IAAF kollektiv gesperrt. Grigori Rodschenkow, Leiter des Anti-Doping-Labors bei den Winterspielen 2014, hatte gerade über das russische Staatsdoping ausgepackt. Der kanadische Rechtsprofessor Richard McLaren bastelte an seinem Untersuchungsbericht. Zu viele Skandale schaden dem Geschäft, zumal kurz vor Olympia. Vor allem, wenn es jene Überfiguren treffen könnte, die Olympias "Magie" herbeizaubern.

Der Vorgang passt in ein Kabinett voller Merkwürdigkeiten und Skandale. Zu neun Positivtests während Olympia 1984, die auf mysteriöse Weise verschwanden. Zur Betrugsorgie im Leichtathletik-Weltverband, wo der ehemalige Präsident Lamine Diack und seine Clique positiv getestete Sportler gegen Geld starten ließen (was Diack bestreitet). Nun das "absurde" Verhalten von Wada und IOC, wie Clemens Prokop findet, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Wobei es den obersten Wächtern erkennbar darauf ankam, nicht die allerletzten Zweifel auszulöschen.

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SZ vom 03.04.2017/ska
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