Die Spiele sind vorbei. Wie es vielen Athleten erging in ihrer hermetisch abgeriegelten, fast klaustrophobischen Parallelwelt, brachte Allyson Felix auf den Punkt, die mit ihrem Gold-Gewinn zur höchstdekorierten Leichtathletin der olympischen Geschichte wurde: Nichts wie heim! "Ich zähle die Tage", sagte die Amerikanerin.
Andere Beteiligte haben diese Parallelwelt sehr genossen. Allen voran Thomas Bach, denn in Tokios dystopischer Funktionsblase konnte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in aller Ruhe seine raumgreifenden Machtpläne entfalten, ungestört auch von medialer Beobachtung. Und so änderte am Schlusstag der Spiele die 138. Session ihre Olympische Charta dahingehend, dass künftig der deutsche Wirtschaftsanwalt und seine sehr geneigte Exekutive ganze Sportarten ohne Zustimmung der Vollversammlung aus dem olympischen Programm werfen können. Bisher durfte die IOC-Exekutive - Bach, vier Vizepräsidenten und zehn weitere Mitglieder - Streichungen nur empfehlen. Nun gelten schwammige Vorgaben für unliebsame Verbände, wie es aktuell die Boxer und Gewichtheber sind: wenn "Entscheidungen der IOC-Exekutive nicht befolgt werden oder wenn der betreffende internationale Fachverband in einer Weise handelt, die dem Ansehen der Olympischen Bewegung schadet".
Italiens Sprinter bei Olympia:Operation Muskelwachstum
Über Italiens erstaunlichen Leichtathletik-Erfolgen liegt der erste Schatten: Doppel-Olympiasieger Marcell Jacobs arbeitete zeitweise mit einem mutmaßlichen Steroidhändler zusammen. Die Beteiligten streiten jegliches Fehlverhalten ab.
Das ist ein großer Schritt zurück in alte Feudalstrukturen. Zumal die als Abnicker-Gremium bekannte Session dem Lenkgremium Bachs noch einen weiteren Herzenswunsch erfüllte: Fortan darf die Exekutive bis zu sieben Mitglieder zulassen, die "in besonderen Fällen ohne Nationalität oder Nationales Olympisches Komitee" gewählt werden können. Das öffnet ein Einfallstor, um die Organisation mit einem persönlichen Netzwerk durchsetzen zu können. Zumal sich der IOC-Konvent mit diesem Beschluss gerade selbst wieder als Vollstreckungsorgan seiner Exekutive entlarvt - die wiederum ebenso verlässlich den tollen Ideen des Vorsitzenden folgt.
Funktionärs-Networking - das ist von jeher eine Spezialität des deutschen Strippenziehers
Vorwärts in die Vergangenheit: Der Ringe-Clan schneidet die Macht noch stärker auf die Führungsfigur zu. Bachs Kurs tritt immer deutlicher zutage, der Deutsche wird vom sportpolitischen Zögling des von 1980 bis 2001 mit eiserner Faust regierenden Autokraten Juan Antonio Samaranch Zug um Zug zu dessen olympischem Wiedergänger. Mit dem Zugriff auf die wirtschaftliche Existenz ganzer Fachverbände, die am Tropf der Spiele hängen, lässt sich bis an deren Basis durchregieren. Und der opulente Freifahrtschein fürs Funktionärs-Networking, seit jeher eine Spezialität des deutschen Strippenziehers: Kein Insider bezweifelt ernsthaft, dass Bach nicht bereits weiß, welche Figuren seine Exekutive in nächster Zeit zum Nutzen der Bewegung dringend in den Olymp berufen muss.
So lassen die Beschlüsse von Tokio einen Masterplan der Macht durchschimmern, der schon beim nächsten Festkongress vor den Peking-Winterspielen 2022 in eine weitere Regeländerung münden könnte: Ein Kreis schwer begeisterter IOC-Mitglieder könnte den Vorschlag unterbreiten, dass man die geltende Amtszeitbeschränkung für Präsidenten von acht plus vier Jahren nun dahingehend ändern solle, dass der aktuelle Vorsitzende über das für ihn geltende Limit 2025 hinaus als Führer der olympischen Bewegung amtieren kann. Gewiss, das ist nur Spekulation in den olympischen Kulissen. Aber es entspräche Bachs akribischer Karriereplanung, und den donnernden Applaus für eine solche Volte müsste die olympische Familie, anders als bei den Geisterspielen in Tokio, nicht einmal vom Band einspielen. Und wer den neuen Personenkult nicht teilt? Der klatscht halt etwas leiser.
Jedenfalls legen die jüngsten Selbstermächtigungen der IOC-Führung nicht nahe, dass der Boss dabei ganz einfach nur das altruistische Ziel verfolgt, die Regentschaft eines Nachfolgers in vier Jahren besonders komfortabel zu gestalten.
Zur internen Frage, wie sich der Ringe-Chef auf lange Sicht an der Spitze einrichtet, gesellt sich eine außenpolitische. Wie die Granden im Fußball-Weltverband Fifa, buhlt auch das IOC seit Dekaden um den Friedensnobelpreis. Offiziell wurde das stets bestritten, sogar, als bei den Lillehammer-Winterspielen 1994 aufflog, dass der Ringe-Konzern ganz diskret eine Beratungsagentur dafür angeheuert hatte, um sich endlich die verflixte Würdigung zu angeln.
Bach wird mühelos Olympiasieger der Unbeliebtheit
In dieser Kategorie spielen sich auch Bachs ungelenke außenpolitische Übungen ab. Druckvoll inszenierte das IOC einen Besuch des Bosses in Hiroshima, der in Japan als staatsmännische Parodie und ärgerlicher PR-Dreh beschrieben wurde. "Hinter seiner Forderung nach dem Hiroshima-Besuch steht sein schreckliches Ego, das den Friedensnobelpreis will", schrieb das Blatt Nikkan Gendai. Und beim nächsten Gala-Auftritt am Rande der Spiele in Peking droht die Fortsetzung eines Bach'schen Dauerbrenners: Gibt es mal wieder ein gemeinsames Team von Süd- und Nordkorea? Dieser leere Symbolismus wird in penetranter Regelmäßigkeit bemüht, als ließe sich das Friedenskomitee in Oslo ja doch einmal damit zermürben.
Es warten große Aufgaben auf Bach, der auch in Japan mühelos Olympiasieger der Unbeliebtheit wurde. Die Medien thematisierten die "Gier" des Sportgranden, dem sie den Spitznamen "Baron von Abzocke" gaben - in Anlehnung an das, was ihn angeblich stets und allein antreibe. Diese Arbeit wird in China angenehmer. Wie steht das IOC zu den Menschenrechtsfragen dort, wie zu den Massenverhaftungen ethnischer Minderheiten? Wird die Funktionsblase für Sportler und Medien in Peking noch enger geschnürt? Bach verbat sich bei seiner Pressekonferenz jede Nachfrage zu China. So lässt ein immer größer werdender Sportherrscher nicht mit sich umspringen.