Schwimmen:Gegengift für die deutsche Versagensangst

Henning Bennet Muhlleitner

Nur 13 Hundertstel fehlen zur Bronzemedaille: Henning Mühlleitner ist trotzdem "mega happy".

(Foto: Petr David Josek/AP)

Über Ghana fast aufs olympische Podium: Henning Mühlleitner steht für einen neuen Geist bei den deutschen Schwimmern - und hat die Mannschaft durch seine Leistung beflügelt.

Von Claudio Catuogno, Tokio

Bestimmt war das für die deutschen Schwimmerinnen und Schwimmer ein Segen: dass es diesmal Henning Mühlleitner, 24, war, der als Erster mit dem schwarz-rot-goldenen Fähnchen auf der Badekappe in den Olympia-Pool sprang. Mühlleitner, der sich nicht erschrecken lässt, nicht von der Hitze in Tokio, vom Essen, auch nicht von den Erwartungen und dem sogenannten Druck. Mühlleitner, der seine ersten Lebensjahre in Sunyani mitten in Ghana verbracht hat, als Sohn eines in der Entwicklungshilfe tätigen Schreinermeisters. Wer schon als Kind Skorpione und Schlangen zerschlug, der fürchtet sich wohl nicht vor den Gedankengeistern, die einem Olympia in den Kopf setzen kann, der genießt es, hier an den Start gehen zu dürfen - und das war bei den deutschen Schwimmern zuletzt nicht immer so gewesen.

Am Samstagabend, im ersten Schwimmwettkampf der Spiele von Tokio, hatte Mühlleitner gleich mal eine persönliche Bestzeit über 400 Meter Freistil abgeliefert, 3:43,67 Minuten. Die brachte ihm nicht nur die Bestätigung, dass er und sein australischer Trainer Matthew Magee in Neckarsulm ein paar Dinge richtig gemacht haben - sondern für das Finale am Sonntagmorgen auch "die Pole Position", wie er es nannte: Bahn vier, als Vorlaufschnellster, die Favoritenbahn. "Das ist schon mal eine richtige Challenge, da aus der Komfortzone rauszukommen", dachte er - und machte als erstes sein Handy aus. Jetzt nicht doch noch ablenken lassen "von diesen Hau-rein-hau-rein-Nachrichten" aus der Heimat, "die meinen das alle nur gut, aber ich will da lieber bei mir und im Moment bleiben".

Henning Mühlleitner, fragten sich plötzlich auch die internationalen Fachportale: Wird das etwa der erste deutsche Medaillengewinner im Beckenschwimmen seit Britta Steffen in Peking 2008?

Wurde er dann nicht - sondern Vierter, in 3:44,07 Minuten. Aber Mühlleitner empfand das eher als Bestätigung, nicht als Enttäuschung. Nie zuvor in seiner Karriere war er schneller als 3:45 Minuten gewesen, also sprach er nun, gerade abgetrocknet, in Tokio in die Mikrofone: "Ich bin mega happy mit dem Rennen und mit dem was ich erlebt habe, und dass ich einfach mega Spaß hatte."

Hätte, hätte, Fahrradkette? Er versuche stets, rational zu bleiben, sagt Mühlleitner

Ein vierter Platz bei Olympia, da rechnet man immer als erstes die Hundertstelsekunden aus, die zu Bronze gefehlt haben. Nur 13 Hundertstel waren es diesmal! Was, wenn Mühlleitner seine Zurückhaltung einen Armzug früher abgelegt hätte? "Ich habe versucht, an den Füßen der Jungs dranzubleiben", sagte er, er weiß ja, dass er seine Stärken auf der letzten Bahn ausspielen muss, aber "dann war ich vielleicht doch ein bisschen zu weit hinten." Sich die 400 Meter klug einzuteilen, ist nicht leicht - und im Grunde war ihm das sehr gut gelungen. Und was wäre gewesen, wenn da nicht auf der Außenbahn der 18-jährige Tunesier Ahmed Hafnaoui mehr oder weniger aus dem Nichts zu Gold geschwommen wäre, in 3:43,94?

"Statt diesem ,Hätte, hätte, Fahrradkette' versuche ich, rational zu bleiben", hat Mühlleitner im vergangenen Oktober in einem bemerkenswert reflektierten Interview mit dem Magazin Swim gesagt. Also blieb er auch jetzt rational. Ein vierter Platz bei Olympia, im Schwimmen mit seiner weltweiten Leistungsdichte - das hat sogar Paul Biedermann nie geschafft, der mit seinen 3:40,07 Minuten von der WM 2009 bis heute als Weltrekordler über die 400 Meter Freistil geführt wird. Biedermanns bester Ertrag, 2016 in Rio: Rang sechs.

210725 Henning Bennet Muhlleitner of Germany, Felix Auboeck of Austria and Elijah Winnington of Australia compete in me

Auf der Favoritenbahn: Henning Mühlleitner (links) geht das Finale über 400 Meter Freistil wie immer etwas verhaltener an - diesmal einen Hauch zu defensiv.

(Foto: Joel Marklund/Imago)

Angedeutet hatte Henning Mühlleitner sein Potenzial schon im Sommer 2018, mit einer Bronzemedaille bei der EM in Glasgow. Dann warf ihn eine Knie-OP aus der Bahn, vor allem, weil er sich in der Reha eine langwierige Bakterieninfektion zuzog: "Ich hatte eine Art Arthritis mit zufälligen Gelenksentzündungen überall im Körper", sagte er Swim, "ich bekam Fieber, sobald ich mich nur ein wenig belastete." Aber das ist jetzt überwunden. Und vermutlich half ihm damals auch, dass er in Neckarsulm von einer ungewöhnlichen Schwimmer-WG aufgefangen wurde.

Nach seiner Krankheit fiel Mühlleitner in ein "tiefes Loch", aus dem ihn seine WG herauszog

Von Ghana nach Schwäbisch Gmünd, dann ins Sportinternat nach Saarbrücken, während die Eltern weiterzogen nach Äthiopien: Das war sein bisheriger Weg, ehe er Ende 2017 mit seinem Coach Hannes Vitense nach Neckarsulm mitging. Dort zog er bei Christian und Mattika Hirschmann ein; er eine Art Mentor des Standorts, inzwischen Vereinspräsident, sie Nachwuchstrainerin. Bei den beiden wohnte schon der Nachwuchsschwimmer Daniel Pinneker, aber ein Zimmer war noch frei, und wenn man Christian Hirschmann nun in Neckarsulm am Telefon erreicht, erinnert er sich an ein "tiefes Loch", in das Mühlleitner nach seiner Krankheit gefallen sei - und daran, wie man gemeinsam wieder herausfand.

Hannes Vitense ist inzwischen der Bundestrainer, der Australier Magee hat am Standort Neckarsulm neue Impulse gesetzt, von denen Mühlleitner, nach anfänglichem Zögern, jetzt überzeugt ist. "Dass es dann so schnell geklappt hat", sagt Hirschmann - "umso schöner."

Bei den letzten Spielen, 2016 in Brasilien, hatte sich im deutschen Schwimm-Team ab dem ersten Wettkampftag die Versagensangst ausgebreitet, so weit blieben die Leistungen hinter den Erwartungen zurück. Die Stimmung war angespannt, genervt. Diesmal ist überall zu hören, wie viel Lust man habe auf diese Spiele. Medaillen sind dadurch natürlich noch keine gewonnen. Aber dass jetzt wieder die große Lähmung einsetzt, dagegen hat Henning Mühlleitner, der Skorpion- und Schlangenzerquetscher von früher, in Tokio schon mal ein wirksames Gegengift gespritzt.

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