Süddeutsche Zeitung

Aus der deutschen Handballer:Männer mit hängenden Köpfen

"Wir wollen Erfolg haben, aber wir haben keine Zeit": Das DHB-Team verliert trotz eines bisher guten Turniers gegen Ägypten - der Bundestrainer hadert mit dem Grundübel des Handballs.

Von Claudio Catuogno, Tokio

Zwei Teams hatten auf dem Parkett zwei Kreise gebildet, nur ein paar Meter voneinander entfernt. Der deutsche Kreis bestand aus Männern mit hängenden Köpfen, die erschöpft noch mal ihre Arme umeinander gelegt hatten, eine letzte Ansprache, was eben so dazugehört, wenn ein Turnier zu früh vorbei ist. Der ägyptische Kreis war in Ekstase. Wie ein Jahrmarktkarussell nahm er Fahrt auf, die Spieler warfen ihre Arme in alle Richtungen, und für einen Moment konnte man sogar die Stille vergessen, die dieses olympische Viertelfinale begleitet hatte. Die Ägypter sangen, grölten, brüllten, als ginge es hier nicht um Medaillen, sondern um ihr Leben.

Vielleicht war es auch das, was der junge deutsche Handballer Juri Knorr, 21, später meinte mit seiner ratlosen Einschätzung, die Ägypter hätten es vielleicht "mehr gewollt". Während die Deutschen "nicht so bereit" gewesen seien. Knorr wirkte jedenfalls beeindruckt von der ägyptischen Handballeruption, die sich hier im Yoyogi Nationalstadion von Tokio ereignet hatte. 31:26 (16:12) für Ägypten, zum ersten Mal stehen die Nordafrikaner in einem olympischen Halbfinale, am Donnerstag treffen sie auf die Franzosen. Und die Deutschen sind ausgeschieden.

Den Eindruck, man habe es nicht ausreichend gewollt, hat dann nicht nur Hendrik Pekeler entschieden zurückgewiesen. "Blödsinn!", sagte er, "natürlich waren wir bereit." Wieso hätten sie auch nicht bereit sein sollen? Ein Viertelfinale stand an, der bisherige Turnierverlauf hatte Anlass zu Hoffnung gegeben, die Deutschen hatten sich in einer schweren Gruppe klar gegen Norwegen und Brasilien durchgesetzt und nur knapp gegen die Spitzenteams Spanien und Frankreich verloren.

Der Aufwand, den die Deutschen betreiben mussten, war deutlich höher

Sie wollten es also, das schon. Aber sie waren nicht gut genug. Es war wohl auch diese Erkenntnis, die im Laufe der 60 Minuten den Zweifel in die Köpfe pflanzte. Der dann wiederum dazu führte, dass sie vorne immer mehr Bälle dem starken Torwart Karim Hendawy auf die Brust oder gegen die Beine warfen statt ins Tor. Und dass dann auch hinten immer weniger zusammenging.

Ein Problem bedingt im Handball viele weitere. Das meinte der Bundestrainer Alfred Gislason, als er hinterher aufzählte: "Die Abwehr hatte heute nicht den Zugriff wie zuletzt, dadurch konnte auch die Torhüterleistung nicht so überzeugend sein, dadurch haben uns schnelle Gegenstöße gefehlt. Und vorne hatten wir zu viele Fehlwürfe."

All das stimmte, all das war entscheidend. Auf 6:1 waren die Ägypter nach zehn Minuten schon weggezogen. Fünf fatale Tore Rückstand, bei denen es bis zum Schluss bleiben sollte.

Was von Anfang an auffiel: Der Aufwand, den die Deutschen für jeden Treffer betreiben mussten, war deutlich höher als bei den Ägyptern. Johannes Golla und Julius Kühn waren mit jeweils sechs Treffern noch die erfolgreichsten Werfer. Letztlich bot sich aber immer wieder dasselbe Bild: Die Deutschen liefen sich fest, bekamen den Ball nicht an den Kreis, schlossen unsauber ab, trafen den Pfosten, scheiterten an Hendawy.

Und die Ägypter nutzten dann den schnellen Ballgewinn, um den Tore-Abstand mindestens stabil zu halten. "Mutig bleiben", rief Gislason immer wieder. Aber zu Mut bestand keinerlei Anlass. Das sah man bald auch den beiden Torhütern an, Johannes Bitter und Andreas Wolff, die ihr Team zuletzt durch dieses Turnier getragen hatten mit fantastischen Paraden. Diesmal hielt Wolff zwölf Prozent der abgegebenen Würfe, Bitter elf Prozent - und Hendawy, drüben bei den Ägyptern: 41 Prozent.

"Wir müssen jetzt analysieren, was wir hätten besser machen können, auch in der Vorbereitung", sagte Gislason. Aber schon im nächsten Satz gab der Bundestrainer selbst den begrenzten Rahmen vor: "Wir wollen Erfolg haben, aber wir haben keine Zeit, daran zu arbeiten." Der Unterschied zwischen Viertelfinal-Aus und Halbfinal-Qualifikation lag am Dienstag nicht nur auf dem Parkett. Er lag auch in den Rahmenbedingungen. Die Bundesligaspieler, so Gislason, "hatten durch die Covid-Liga eine Monstersaison hinter sich" - sie bestritten die kürzeste Olympia-Vorbereitung, die es je gab.

Und sehr viel Zeit mit seinen Spielern wird er auch in Zukunft nicht haben, das berühmte Grundübel im europäischen Handball. Er habe es schon "vor zehn Jahren aufgegeben, mich zu beklagen über die zu vielen Spiele", sagte Gislason nun in Tokio, damals war er noch Vereinstrainer, "ich habe keinen Sinn mehr darin gesehen. Es sind nämlich immer mehr Spiele geworden, nicht weniger."

Dazu passte nun, dass die Ägypter mit der längsten Vorbereitung dagegenhielten: Seit Mitte Mai hatten sie sich mit ihrem spanischen Trainer Roberto Parrondo auf ihre olympische Mission eingestimmt. Die Ägypter waren bereit, da konnte es keine zwei Meinungen geben.

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