Olympia-Gastgeber:Die obszönen Spiele

Olympia-Gastgeber: Olympia am Strand: Eine tollere Kulisse als Rio kann es für die Spiele kaum geben. Bloß kann sich die Stadt die Mega-Veranstaltung leider nicht leisten.

Olympia am Strand: Eine tollere Kulisse als Rio kann es für die Spiele kaum geben. Bloß kann sich die Stadt die Mega-Veranstaltung leider nicht leisten.

(Foto: Leon Neal/AFP)

Als Rio 2009 den Zuschlag bekam, tanzten die Menschen. Dann kamen Skandale, Umsiedlungen, Drogenkrieg und Zika. Und die Frage: "Was hat der Sport für einen Sinn, wenn er nicht dem Volk dient?"

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Angekündigt sind natürlich die besten Spiele aller Zeiten. Man hört das alle vier Jahre wieder. Es macht allerdings einen kleinen Unterschied, von wem man es hört. Rios Bürgermeister Eduardo Paes beispielsweise ist mit diesem Standardsätzchen seit Wochen auf Marketingtournee für seine Stadt. Wo auch immer er hinkommt, was auch immer er eröffnet und egal, was er gefragt wird, stets hat er seinen olympischen Superlativ dabei. Manchmal, je nach Anlass, streut er auch kleine Variationen ein. Dann verspricht er die fröhlichsten oder die nachhaltigsten oder die billigsten Spiele für die öffentliche Hand aller Zeiten - oder die schönste Sportkulisse seit dem antiken Griechenland.

Was aber sagte IOC-Präsident Thomas Bach, als er vor wenigen Tagen in Rio gelandet war? "Wir sind zuversichtlicher denn je, dass wir großartige Spiele erleben werden." Hups.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

1,5 Millionen leben in Favelas - aber für die Sportler lässt die Stadt 3600 Wohnungen bauen

Dem auf den ersten Blick windelweichen Satz ist die Hoffnung zu entnehmen, dass es gut werden könnte. Aber eben nicht, wie sonst üblich, die absolute Gewissheit, dass es besser wird denn je. Aus dem Mund von Bach, dem man vieles vorwerfen kann, aber bestimmt nicht olympische Schwarzmalerei, ist das kein Lob, sondern eine gut verstreckte Rüge: Rio, streng dich gefälligst an! Das ist der Subtext, der nachhallt. Sportdiplomatie unter größtmöglicher Ausblendung der Realität.

Zu sagen, dass es möglicherweise ein Fehler war, die Spiele nach Rio zu vergeben, soweit würde der Karrieremensch und Ich-Lobbyist Bach natürlich niemals gehen. So sieht das am Vorabend der Eröffnungsfeier allerdings eine Mehrheit der Brasilianer. Knapp zwei Drittel der Bevölkerung glauben, dass ihnen diese Veranstaltung mehr Nachteile als Vorteile bringen wird. Etwa die Hälfte ist grundlegend gegen Olympia. In einem Land mit mehr als 200 Millionen Einwohnern sind da natürlich immer noch genügend Feierwillige übrig. Aber zur Realität der Spiele von 2016 gehört eben auch, dass weiterhin allerlei Eintrittskarten zu erstaunlich zivilen Preisen angeboten werden. Leichtathletik: 27 Euro. Beachvolleyball: 14 Euro. Kanu-Rennsport: elf Euro. Falls man Vorfreude im Online-Shop messen kann, dann sieht es düster aus in der Olympiastadt.

Als Rio im Oktober 2009 in Kopenhagen den Zuschlag für die Ausrichtung bekam, wurde an der Copacabana ein Wochenende lang durchgetanzt. Ganz so, wie es das schöne Klischee von den allseits gut gelaunten Cariocas vorsieht. Und wenn man die spontane und aufrichtige Begeisterung von damals zusammen mit den brasilianischen Wirtschaftsprognosen aus dieser Zeit ins Jahr 2016 hochrechnete, dann schien für dieses Sportfest ja tatsächlich kein Superlativ groß genug zu sein.

Das Brasilien, das die Spiele zugesprochen bekam, ist allerdings nicht mehr das Brasilien, das sie nun ausrichten wird. In der Zwischenzeit hat sich eine angehende Weltmacht in einen ökonomischen Krisenherd verwandelt, wurde eine gewählte Regierung unter putschverdächtigen Umständen gestürzt und der größte Schmiergeldskandal in der Geschichte des Landes aufgedeckt, hat sich der Drogenkrieg wieder verschärft, brach die Zika-Hysterie aus, stürzte eine olympische Fahrradbrücke ein und riss zwei Menschen in den Tod, kollabierten das Gesundheits- und das Bildungssystem, fielen große Teile des neuen Mittelstandes in die Armut zurück, um nur einige Begeisterungsdämpfer zu nennen.

Zehn Milliarden Euro plus versteckte Kosten

Den Sportfunktionären sollte besonders zu denken geben, dass Brasilien in dieser Zeit auch die Geburtsstunde einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber solchen Mega-Events erlebt hat. Im Jahr vor der WM 2014 (der teuersten jemals) demonstrierten Millionen mit Sprüchen wie: "Wir wollen Schulen und Krankenhäuser nach Fifa-Standard". Verglichen mit heute war Brasilien damals noch ein Boomland. Man muss sich deshalb fast wundern, dass es noch recht ruhig ist auf den Straßen von Rio und São Paulo. Der Bundesstaat Rio de Janeiro hat vor wenigen Wochen unter weltweitem Aufsehen den finanziellen Notstand erklärt, einer aktuellen Studie zufolge sind jedoch fast alle brasilianischen Kommunen heillos überschuldet.

Für die Spiele von Rio sind nach offiziellen Angaben knapp zehn Milliarden Euro eingepreist. Nicht mitgerechnet sind da allerdings die versteckten Kosten, etwa die unausweichliche Steuerbefreiung für das IOC und das lokale Organisationskomitee sowie von ihnen beschäftigte Unternehmen. Nach Angaben der Heinrich-Böll-Stiftung in Rio de Janeiro entgeht dem brasilianischen Fiskus damit knapp eine Milliarde Euro. Auch die Armee aus 38 000 Soldaten, die von der Bundesregierung in Brasília nach Rio beordert wurde, um die Stadt in den kommenden drei Wochen in eine Hochsicherheitszone zu verwandeln, patrouilliert nicht umsonst. Rios Bürgermeister Paes hat für die Zeit der Spiele außerdem vier Zusatz-Feiertage erlassen, um das drohende Verkehrschaos zu entschärfen. Die Schüler und Arbeiter jubeln, der Volkswirtschaft entgehen so weitere Milliönchen.

Es liegt längst nicht nur an Brasilien, dass die olympische Fackel am Freitag bei allgemeiner Krisenstimmung entzündet wird. Es liegt vor allem auch an diesen Spielen, die schlichtweg so groß und maßlos geworden sind, dass sie jeden Austragungsort der Welt vor unüberbrückbare Widersprüche stellen würden. Vielleicht sind sie im ohnehin sehr widersprüchlichen Rio de Janeiro bloß besonders offensichtlich. In einer Stadt, in der knapp 1,5 Millionen Menschen in Favelas leben, hat es schon etwas Obszönes, dass mal eben 3600 Apartments aus dem öffentlichen Grund und Boden gestampft werden - für Sportler, die drei Wochen bleiben.

Rio 2016 - Olympische Spiele

Rios Bürgermeister Eduardo Paes, hier am Mittwoch mit olympischer Fackel, verspricht die "besten Spiele aller Zeiten". Das sagt sich so leicht.

(Foto: Antonio Lacerda/dpa)

77 000 Menschen wurden umgesiedelt

Die Milliardeninvestitionen in Rios Infrastruktur werden von Eduardo Paes und Thomas Bach als das "olympische Vermächtnis" angepriesen. Ganz falsch ist das nicht. Es kann aber auch nicht unterschlagen werden, dass für diese Art von Vermächtnis mindestens 77 000 Menschen umgesiedelt wurden. Manche gingen freiwillig aus ihren Häuser und Hütten, aber längst nicht alle.

In der Vila Autódromo etwa, jener Favela, die bis vor Kurzem an den Olympiapark in Barra da Tijuca grenzte, schickte die Stadtverwaltung letztlich ein paar Bulldozer vorbei. Die machten aus der Siedlung von 600 Familien einen Parkplatz für Olympiaberichterstatter. Von Maria da Penha, der inzwischen berühmten Widerstandskämpferin der Vila Autódromo, stammt der Satz: "Was hat der Sport für einen Sinn, wenn er nicht dem Volk dient?"

Gute Frage. Am Ende kann man sie wohl nur so beantworten: Der Sport dient seiner selbst. In seinen besten Momenten lenkt er von dem ganzen Wahnsinn ab, den er nebenbei so produziert. Kann schon sein, dass sich die Brasilianer in den kommenden Tagen ein wenig ablenken lassen, wenn es die ersten Medaillen gibt. Aber auch in diesem Bereich sind die Prognosen allenfalls verhalten optimistisch. Brasilien ist eine Sportnation, aber keine Olympiasportnation. Neben der olympischen Randsportart Fußball gehören hier Formel 1 und Mixed-Martial-Arts zu den größten Zuschauermagneten. Beides ist aus guten Gründen nicht im IOC-Programm.

Brasilien baut auf den Heimvorteil

Gemessen an der Größe der Bevölkerung ist Brasiliens Ausbeute bei Olympischen Spielen bislang extrem bescheiden. Die fünftgrößte Nation der Welt liegt im ewigen Medaillenspiegel auf Platz 32, knapp hinter Kenia, deutlich hinter Belgien und weit hinter Kuba. Der nationale Sportplan sieht vor, es dieses Jahr erstmals in die Top Ten des Rankings zu schaffen. 27 Medaillen sollten es ursprünglich werden. Inzwischen wurde das Minimalziel auf 23 bis 24 korrigiert. Vor vier Jahren in London waren es 17. So viele wie noch nie.

Natürlich setzt das Land auf den berühmten Heimvorteil, obwohl bei der Fußball-WM vor zwei Jahren nicht wirklich zu erkennen war, dass er tatsächlich existiert. Laut Berechnungen der Zeitung Folha de São Paulo sammelten die Gastgebernationen vergangener Spiele durchschnittlich 13 Medaillen extra ein. Allerdings weist die Statistik nicht aus, wie viel davon auf die Unterstützung der heimischen Zuschauer zurückzuführen ist - und wie viel etwa auf staatliche Dopingprogramme.

Brasilien kämpft gegen die Depression

In Brasilien wurde vor diesen Spielen jedenfalls kräftig in die Sportförderung investiert. Der 2012 verkündete Plan "Brasil Medalhas" hatte ein Volumen von einer Milliarde Reais, gut 270 Millionen Euro. Kritiker behaupten, dass ein erklecklicher Teil der Summe auf verschlungenen Pfaden sowie in tiefen Taschen versickerte. Wahrscheinlich muss also Neymar alles richten. Allein durch seine Präsenz im Kreise größtenteils unbekannter Nachwuchskicker erfährt das sonst so bedeutungsleere Fußballturnier bei diesen Spielen eine beispiellose Aufwertung.

Für Brasilien geht es hier um den Kampf gegen eine multiple Depression: Der Rekordweltmeister hat noch nie olympisches Gold gewonnen - weder bei den Männern noch bei den Frauen. Spätestens nach dem mitleiderregenden WM-Auftritt von 2014 gelten diese beiden Medaillen als Pflichtübungen. Dann fehlen aber immer noch 21 zum Minimalziel.

Berechtigte Hoffnungen auf den mittleren Podiumsplatz kann sich Brasilien auch im Judo, im Segeln, im Volleyball am Strand und in der Halle, in der ein oder anderen Kanu- und Schwimmentscheidung sowie im Stabhochsprung der Frauen machen. Der Turner Arthur Zanetti soll seinen Olympiasieg an den Ringen aus London wiederholen. Der modernen Fünfkämpferin Yane Marques, die am Freitag Brasiliens Fahne ins Maracanã tragen darf, wird auch einiges zugetraut. Was den Rest des Medaillenplans angeht und überhaupt fast alles, was mit dem Erfolg dieser Spiele zusammenhäng, so gilt der Refrain eines Olympiasongs, den der unermüdliche Pelé gerade mit einem Kinderchor eingesungen hat: "Esperança", Hoffnung.

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