Süddeutsche Zeitung

Freiwasserschwimmen bei Olympia:"Das hat richtig Spaß gemacht. Doch! Wirklich!"

In der Bucht von Tokio schwimmen die Freiwasserschwimmer zehn Kilometer in 30 Grad warmen Wasser - es ist brutal. Nur die Würzburgerin Leonie Beck, die lange führt und am Ende Fünfte wird, sagt hinterher fröhlich: "Ich hab gar nicht geschwitzt."

Von Claudio Catuogno, Tokio

Eine gute Stunde nach dem Start setzte sich auch die Wolke in Bewegung, die sich seit dem frühen Morgen über dem Stadtteil Ariake an den Hochhäusern festgeklammert hatte. Das Licht wurde gleißend, die Luft wurde klebrig. Es war erst halb acht am Morgen, aber immer mehr Trainer und Betreuer drängten sich jetzt unter die wenigen Sonnenschirme oder in den Schatten der Gebäude, und die ersten Journalisten dachten sich, dass man so ein olympisches Zehn-Kilometer-Freiwasserrennen doch auch im klimatisierten Pressezelt an den Bildschirmen verfolgen kann statt unter der lebensfeindlichen japanischen Sonne.

Das ungefähr war der Moment, in dem Leonie Beck, 24, aus Würzburg das Rennen zu genießen begann.

Um 6.30 Uhr waren 25 Frauen zwischen den künstlich angelegten Inseln in der Bucht von Tokio ins Wasser gesprungen, die offiziellen Rahmenbedingungen waren eine Stunde vorher ermittelt worden: 27 Grad Lufttemperatur, 87 Prozent Luftfeuchtigkeit, 29,3 Grad Wassertemperatur. Aber da war die Wolke noch da, später wurde es heißer und heißer, und hätte man um 8.30 Uhr noch mal gemessen, als die Brasilianerin Ana Marcela Cunha, 29, als Erste gegen die Tafel im Zielbogen schlug, wäre die zugelassene Wasserhöchsttemperatur von 31 Grad womöglich überschritten gewesen. "Alle haben berichtet, dass es immer wärmer und wärmer wurde", sagte der deutsche Teamchef Bernd Berkhahn, "das war heute der limitierende Faktor." Unter seiner Schirmmütze stand Berkhahn der Schweiß im Gesicht.

Aber keiner Schwimmerin war die Hitze offenbar so egal wie Leonie Beck, die Fünfte geworden war. Sie stellte sich zu den Journalisten in die Sonne und lachte. Und? War's arg schlimm?, wurde sie gefragt. "Gar nicht", antwortete sie. "Ich hab' eigentlich gar nicht geschwitzt."

Freiwasserschwimmen hat etwas Meditatives, jedenfalls wenn man vom Ufer aus zuschaut. Fast hat man den Eindruck, die Zeit bliebe stehen. Irgendwo in der Bucht ist ein großes Spritzen zu sehen. Drum herum paddeln Rettungsschwimmer auf ihren Brettern. Begleitboote bewegen sich langsam durch die Szenerie. Im Hintergrund gleiten die Lastwagen durch den Himmel, gestützt von Tokios berühmter Rainbow Bridge, die U-Bahn-Züge rumpeln eine Etage tiefer rüber nach Tokio Downtown. Im Norden die Skyline, im Westen die Kräne des Containerhafens. Blick wieder ins Hafenbecken. Es spritzt. Jetzt etwas weiter links. So vergehen die Minuten und Stunden.

Wenn man selbst schwimmen muss, ist Freiwasserschwimmen allerdings brutal - Schläge, Tritte, dazu das Laktat, das die Muskeln brennen lässt - und kann doch das Allerschönste sein. "Ach", seufzte jedenfalls Leonie Beck, "das hat richtig Spaß gemacht. Doch! Wirklich! Wirklich! Es hört sich vielleicht blöd an, aber das war so ein cooles Rennen! Das beste Freiwasserrennen meiner Kariere. Und mit Platz fünf kann ich richtig stolz sein."

Wirklich simulieren kann man zehn Kilometer in 30 Grad warmem Wasser nicht

Olympia, das ist eben mehr als die ewige Frage nach Gold, Silber oder Bronze. Olympia, das sind vier (diesmal: fünf) Jahre Vorbereitung - und dann der eine Moment. In der Vorbereitung haben sie "extra Wärmebäder gemacht vor dem Training", berichtete Berkhahn, um die Sportler auf die Temperaturen vorzubereiten. Aber wirklich simulieren kann man zehn Kilometer in 30 Grad warmem Wasser nicht.

Finnia Wunram, 25, aus Magdeburg, die zweite deutsche Starterin am Mittwoch, sah hinterher jedenfalls ziemlich geschafft aus. Wunram hat bei Weltmeisterschaften schon Bronze über fünf und Silber über 25 Kilometer gewonnen, nun hatte auch sie lange in der Führungsgruppe mitgehalten. Dann reichten irgendwann die Kräfte nicht mehr. "Die Bedingungen waren heute schon hart", sagte sie.

Leonie Beck hatte sich vom Start weg an die Spitze gesetzt. Sie fühlte sich gut, sie ging den Rangeleien aus dem Weg. Und Anfang der letzten von sieben Runden dachte sie sich, "dass ich jetzt mal was probiere" - und zog das Tempo an. Dass das vielleicht zu früh war? Dass ihr dadurch im Schlussspurt die Kräfte gefehlt haben könnten für eine Medaille? Der Trainer Berkhahn war da hin und her gerissen, "da muss man die Geduld bewahren und den richtigen Moment abpassen", sagte er einerseits. Andererseits: "Du kannst auch im Schlussspurt Fünfte werden, und dann wirfst du dir vor, dass du nichts riskiert hast." Und was könne es Schöneres geben, "als bei Olympia Akzente zu setzen, sogar den Rennverlauf mitzubestimmen, das macht doch Spaß!"

Das kann Beck jetzt keiner mehr nehmen. Die letzte Runde: Noch einmal ging es um die aufgeblasenen Riesenbojen herum. Auf den Luftbildern sieht man die Skyline von Tokio, die Brücke, unten im Wasser sieht man es spritzen, und auf die vorderste Schwimmerin haben die Fernsehleute ein digitales deutsches Fähnchen gesetzt, dazu die Schrift: "Leader: L. Beck". Hinausgesendet in die ganze Welt.

Neun Uhr morgens in Tokio, die Luft flimmert am Horizont, die Zikaden zirpen, die Fotografen schleppen keuchend ihre Kameras und Objektive zum Bus. Leonie Beck steht in der Sonne und denkt an die vergangenen Stunden zurück. Sie sagt: "Ich habe eigentlich während des ganzen Rennens keinen einzigen negativen Gedanken gehabt."

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