Schon vor Monaten hatte das angefangen, als noch gar nicht feststand, ob es die deutschen Fußballerinnen überhaupt zu den Olympischen Spielen schaffen würden. Immer wieder erzählte ihnen Horst Hrubesch davon, was für ein Erlebnis dieses Großereignis, vor allem das olympische Dorf und das Deutsche Haus, seien. Er selbst hatte die Atmosphäre 2016 in Rio erlebt, als er mit den Männern Silber holte und die Frauen Gold gewannen. Den Austausch damals zwischen den Nationalteams bezeichnet Hrubesch als seine Geburtsstunde im Frauenfußball. Jedenfalls: So viele Athletinnen und Athleten unterschiedlicher Disziplinen aus so vielen Ländern – das sei eigentlich zu besonders, um es zu beschreiben. Und doch versuchte es der Interimsbundestrainer. Erst sollte die Erzählung motivieren für die entscheidenden Qualifikationsspiele im Februar, dann zusätzlich pushen auf dem Weg zum großen Ziel: dem Finale.
„Das lässt er uns oft genug wissen, wie besonders dieses Turnier ist und wie besonders auch der olympische Gedanke ist“, erzählte Laura Freigang in diesen Tagen: „Dass wir nach Paris wollen, das kriegen wir oft genug zu hören. Zum Glück haben wir nicht so viele Besprechungen.“ Für Freigang und ihre Mitspielerinnen wird es nun wohl dabei bleiben, dass sie – bis auf Kapitänin Alexandra Popp, die als einzige Spielerin aus dem Gold-Team von 2016 noch dabei ist – dieses Flair nur vom Hörensagen kennen. Wobei der Bundestrainer noch eine Option sah: „Wenn wir zur Abschlussfeier gehen, kommen wir am Dorf vorbei. Vielleicht kommen wir doch noch rein.“ Sein Team ist bisher in Marseille, Saint-Étienne und Lyon abseits von Paris, der diesjährigen Olympia-Hauptstadt, unterwegs gewesen.
Erst für das Goldmatch wären sie umgezogen und zu den anderen Olympioniken gestoßen. Daraus wird nichts, weil sie auch im Halbfinale gegen die USA ihre Chancen ungenutzt ließen. Gegen die Rekordsiegerinnen hatten sie im zweiten Gruppenspiel 1:4 verloren. Insofern gab es durchaus eine deutliche Leistungssteigerung zu beobachten, das Wiedersehen endete nur 0:1, nach Verlängerung. Und das, obwohl den Deutschen Leistungsträgerinnen fehlten. In der 95. Minute entschied Sophia Smith die Partie. Und dieses eine Tor reichte den Amerikanerinnen fürs Finale am Samstag. Dort treffen sie auf Brasilien, Silbermedaillengewinnerinnen von 2004 und 2008, die sich überraschend deutlich 4:2 (2:0) durchsetzten gegen die Weltmeisterinnen aus Spanien. Jenes Team also, das zuletzt die spielerischen Maßstäbe im Frauenfußball gesetzt hat – und am Freitag (15 Uhr, ZDF) nächster Gegner der Deutschen sein wird, die nach 2000, 2004 und 2008 zum vierten Mal Olympia-Dritte werden können.
„Jetzt wollen wir unbedingt die Bronzemedaille holen. Auch für die Spielerinnen, die nicht dabei sein können, und für den Trainer“, sagte Giulia Gwinn. Im zweiten Teil ihrer Aussage steckte gewissermaßen die deutsche Geschichte dieses Turniers, das auch ohne Medaille ein besonderes sein wird, weil es das letzte von Hrubesch sein soll. Auf ihn folgt Christian Wück. Der 73-Jährige hatte seinen Abschied vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) zwar schon mal verkündet und war dann doch für eine zweite Interimszeit bei den Frauen zurückgekehrt. Aber diesmal, so wirkt es, steht der Entschluss endgültig.
„Wenn’s ins Elfmeterschießen gegangen wäre, hätten wir das Ding gewuppt“, sagt Sydney Lohmann
Das machte die Niederlage von Lyon umso bitterer. Denn dieses Geschenk, noch einmal ins olympische Dorf zu ziehen und vielleicht sogar Olympiasieger zu werden, das konnten die Spielerinnen ihrem geschätzten Trainer nicht machen. Der Hauptgrund dafür war schnell ausgemacht. „Tore machen, man muss die Tore machen wollen. Darum geht es, das ist der entscheidende Faktor“, sagte Hrubesch. Hätten die DFB-Frauen in den 120 Minuten noch getroffen und gewonnen oder sich ins Elfmeterschießen gerettet, sie hätten sich gegenseitig damit aufziehen können, wer welchen Abschluss wie liegen gelassen hatte. So aber hinterließ der Abend einen bitteren Geschmack. „Wir waren komplett dran“, erklärte Sydney Lohmann: „Wenn’s ins Elfmeterschießen gegangen wäre, hätten wir das Ding gewuppt.“
Die Deutschen agierten bei Olympia insgesamt variabler als in den Monaten zuvor. Aber mit ihrer Abschlussschwäche haben sie sich von der Gruppenphase bis zum Halbfinale das Leben erschwert. Nun hatten sie gegen die USA zwar nicht Großchancen am Fließband, aber es gab genug aussichtsreiche Momente, in denen sie sich für ihre weitgehend wirkungsvolle Defensivarbeit und die Leistungssteigerung im Vergleich zur Vorrundenbegegnung hätten belohnen können. Das Sturm-Trio Trinity Rodman, Mallory Swanson und Sophia Smith kam nicht zur vollen Entfaltung, auch die Gegnerinnen haderten im Strafraum. Abwehrchefin Marina Hegering und Torhüterin Ann-Katrin Berger hatten daran erwähnenswerten Anteil.
Aber in der Offensive fehlte eben immer irgendetwas. Mal war es Präzision, mal Übersicht, mal Cleverness, manchmal vielleicht auch Glück. Wie in der 119. Minute, als Freigang beim Kopfball aus kurzer Distanz den Ball nicht an US-Keeperin Alyssa Naeher vorbeibrachte, weil diese im Sprung noch mit dem linken Fuß blockte. Hrubesch schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. „Aber ich kann den Mädels keinen Vorwurf machen“, zeigte er sich versöhnlich: „Wenn man in zwei Spielen für 120 Minuten auf dem Platz steht, in der Art und Weise, wie wir das gemacht haben, dann ist das eigentlich großartig.“
Im Viertelfinale gegen Kanada behielten sie im Elfmeterschießen die Nerven. Nun mussten sie kurzfristig auf Ausfälle reagieren. Kapitänin Alexandra Popp war von einem Infekt erwischt worden. Damit fiel die Stütze im Mittelfeld weg, dorthin war sie vom Angriff gerückt, weil kurz vor dem Turnier mit Lena Oberdorf schon eine andere wichtige Spielerin verletzt passen musste. Gegen die USA kam hinzu, dass Torjägerin Lea Schüller nicht eingesetzt werden konnte, die Patellasehne ihres linken Kniegelenks hatte sich entzündet. Und dann musste auch noch Hegering in der 78. Minute verletzt raus. „Wir sind in diesem Turnier ganz gut gewachsen, obwohl wir einiges ersetzen und verändern mussten“, fand Hrubesch schon vor dem USA-Spiel. Die große Frage ist jetzt, ob Popp, Schüller und Hegering rechtzeitig wieder genesen für das Spiel um Platz drei.
Die deutschen Fußballerinnen jedenfalls werden gegen die Spanierinnen über sich hinauswachsen müssen, wenn sie Horst Hrubesch am Ende dieser Reise noch ein glänzendes Geschenk machen wollen.