Eröffnungsfeier in Tokio:Das Feuer in der Stille

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Tennisspielerin Naomi Osaka entzündet die olympische Flamme. (Foto: Laurence Griffiths/Getty Images)

Der Hubschrauber knattert, die Teams erscheinen mit Maske, und immer noch ist Pandemie: Im Nationalstadion von Tokio findet eine Olympia-Eröffnungsfeier statt wie vor einem leeren Theatersaal. Und vor der Küste braut sich ein Sturm zusammen.

Von Holger Gertz, Tokio

Und tatsächlich ist es wieder so, wie es praktisch immer ist, wenn man einem Ereignis oder Geschehen länger entgegensieht, womöglich sogar entgegenfiebert. Tritt es dann ein, ist es immer noch mal anders, das Echte schlägt die Vorstellung, die Realität ist wuchtiger als jede Fantasie. Olympia-Eröffnung in Tokio, noch immer in der Pandemie. Die Frage, öffentlich gewälzt seit Monaten, war, ob man das bringen kann, ob das Sinn ergibt. Und wem das nützt. Das Zusammensein feiern zu wollen in einer Zeit, in der immer noch Distanz angesagt ist. Selten, dass die Gegensätze sich so unmittelbar begegnen. Eine Olympia-Eröffnungsfeier ohne Publikum, die kann es eigentlich doch gar nicht geben. Weil eine Feier ohne Gäste alles ist, nur keine Feier.

Anfahrt also mit dem Journalistenbus, ausnahmsweise mal wirklich komplett privilegiert, weil Reporter, die ein Sonderticket haben, reindürfen ins neue Nationalstadion von Tokio, Zuschauer nicht. Kurze Reise durch die Stadt, ein paar Hundert Meter vor der Arena werden die Journalisten vom Busfahrer abgesetzt und wandern das letzte Stück durch eine mit Flatterband von der Umwelt abgegrenzte Sicherheitszone. Auf der anderen Seite des Flatterbandes stehen die Bürger Tokios, da ist auch das "Japan Olympic Museum", da können sie in die olympische Vergangenheit eintauchen. Aber die olympische Gegenwart im Stadion da drüben bleibt ihnen verschlossen. Viele haben Kameras dabei oder kleine Fotoapparate, mit denen sie die Journalisten knipsen. Sie fragen, woher man kommt - "Oh, Jimminy" -, und dann schauen sie den Journalisten und Journalistinnen aus Germany hinterher, wie die ins Stadion marschieren. Und die Leute aus Tokio bleiben draußen.

Klar, Olympia ist wichtig für die Athleten, die haben trainiert für die Spiele, alles richtig, wer will Karrieren ohne Olympia versanden sehen, jedem sei es gegönnt. Andererseits, Olympia ist auch so wichtig für die Leute aus den Gastgeberstädten, das sagen die Zeremonienmeister doch immer, Dank an die Bürger von London, Dank an die Bürger von Barcelona, Dank an die Bürger von Rio. Und bei denen hätte es 2016 auch eher schon ein Dank an deren Duldsamkeit sein müssen. Die Armen saßen, zum Teil, oben in den Favelas und schauten auf das große Feuerwerk, mit dem sie nichts zu tun hatten.

Auch wenn es in Tokio keine Favelas gibt: Was erzählt Olympia denn denen, die hier das Feuerwerk vor ihrer Haustür nur live im Fernsehen beobachten, oder wenn sie live aus dem Fenster schauen?

Kalte Ruhe dann im Stadion, alle Plätze leer, bis auf die Gäste und Journalisten. Es gibt auch sonst gelegentlich Trauerminuten, dann legt sich absichtliche Stille auf so eine Arena, aber das Publikum ist trotzdem da, und man spürt es beben, wie unter einer dichten Decke atmen. Und wenn die Trauerminute zu Ende ist - oft ist es keine komplette Minute -, grölt und ruft alles, das ist dann wie Losgelassenwerden. Die Stille in einem vollen Stadion ist vital, verglichen mit der Stille in diesem leeren Stadion. Man sitzt also an seinem Platz und hört, bevor die offizielle Zeremonie beginnt, den Hubschrauber. Einer Helferin fällt die Mappe mit Zetteln runter. Ein bisschen Stühlerücken, ein bisschen Fluchen, von rechts, weil das verdammte Wlan wieder nicht geht. Man hört den Hubschrauber und schaut ins leere Stadion. Olympia in Tokio. Vom Band dann Erlesenes und Gewesenes aus der japanischen Populärmusik, zum Anwärmen der Massen, die nicht da sind. Clementine, Hideo Shiraki, Pizzicato Five und Mute Beat, "summertime - frozen sun" - wie passend.

Beim Einmarsch der Nationen ist vieles austauschbar - auch weil die Gesichter mit Masken verdeckt sind

"Die Stadionmasse ist nach innen gerichtet, auf die Sportstätte hin, und schaut sich zugleich selbst zu", hat der österreichische Germanist Klaus Zeyringer geschrieben, in seiner Kulturgeschichte der Olympischen Spiele. So war das immer, so ist es diesmal nicht, einer Eröffnungsfeier ohne Publikum ist wie das Deklamieren in einen leeren Theatersaal hinein. Und natürlich fehlt der Dialog zwischen denen im Stadion und denen da draußen, beim endlosen Einmarsch der Nationen ist vieles austauschbar, weil die ohnehin unbekannten Gesichter der Sprinterinnen und Heber aus allen Weltteilen und Himmelsrichtungen zusätzlich mit einer Maske verdeckt sind.

Weil der Blick auf die Welt sich aber verändert hat in anderthalb Jahren Pandemie, beginnt man umgehend damit, die einmarschierenden Sportler gedanklich aufzuteilen, wie Mitreisende in der Straßenbahn. Hier FFP2-Träger, dort Nasenraushänger, wie der Fahnenträger Andrew Amonde aus Kenia. Das Hereintragen der Flagge wird neuerdings von je einer Frau und einem Mann übernommen, tatsächlich ein Fortschritt. Im Falle Guams: Die Sprinterin Regine Kate Tugade und der Judocrack Joshter Andrew. Die Delegation aus Tadschikistan: maskenlos. Die Delegation aus St. Vincent und den Grenadinen trägt dafür die drei grünen Rauten der Flagge auch auf dem Mundschutz. Wikipedia weiß, was jeder wissen sollte: "Grün repräsentiert die üppige Vegetation, St. Vincents Landwirtschaft und die andauernde Vitalität der Bevölkerung." Schließlich, und damit ist erfreulicherweise doch noch etwas wie vor der Pandemie: Der Fahnenträger aus Tonga, Pita Taufatofua, erscheint mal wieder eingeölt. Die Fahnenträgerin Malia Paseka bleibt uneingeölt.

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Leider wird dann bei dieser Feier gegen das popkulturelle Grundgesetz verstoßen und "Imagine" aufgeführt - aber "Imagine" nicht von Lennon ist immer eine Geschmacklosigkeit. Charakteristische Elemente der Gastgeberländer werden inzwischen bei diesen Zeremonien überdeckt vom bräsigen und erwartbaren Pathos der Spielemacher. IOC-Chef Bach predigt von der "message of solidarity" , vom "living under one roof together" - wie oft hat man das so oder so ähnlich schon gehört? Aber wahrscheinlich kann man, als Thomas Bach, so was sogar in Peking 2022 sagen.

Mit allem Recht kann man Bachs kalt kalkulierende Oberolympioniken anklagen dafür, dass sie das Ding hier durchziehen, gegen den Willen vieler Japaner, koste es, was es wolle, aber die Ausrichter bleiben eh auf einem großen Batzen Kosten sitzen. Und das IOC hat die Verträge so gut ausverhandelt, dass es eigentlich immer gut aus der Sache rauskommt. Ausgerechnet jetzt ist das olympische Motto ausgeweitet worden, statt "Schneller, höher, stärker" jetzt "Schneller, höher, stärker - gemeinsam". Und wenn halt nicht vor Ort gemeinsam, dann gemeinsam mit dem Fernsehpublikum. Darauf kommt es ja eigentlich an.

Jede Eröffnungsfeier ist ein Spiegel ihrer Zeit

Wenn man das ganze Panorama in den Blick nimmt, ist natürlich diese Opening Ceremony ein Abbild ihrer Zeit. Eröffnungsfeiern - so ernst darf man sie nehmen - spiegeln immer auch ein wenig die Stimmung in der Welt. Unvergessen die Scharfschützen auf den Dächern in Salt Lake 2002, so kurz nach nine eleven. Bleierne Zeit. Unvergessen die Perfektion der Trommler in Peking 2008, ein ganzes Stadion im Gleichklang, Chinas Machtdemonstration. Unvergessen auch: Sydney 2000, Cathy Freeman, eine Aborigine, entzündet die Flamme. Natürlich auch überdramatisiert, diese Geste, aber trotzdem inzwischen Erinnerung an eine Phase, die mit dem Mauerfall anfing und mit dem Einsturz des World Trade Centers aufhörte - in dieser Zeit schien die Welt womöglich wirklich irgendwie besser zu werden, und Sydney war das letzte Leuchten.

Jetzt die Corona-Games. Und bald kommen Winterspiele in Peking. Und womöglich erst mal ein Taifun über Tokio, er scheint sich jedenfalls zusammenzubrauen. Als schließlich die Stille, die von der dräuenden Untermalung des Einmarschs der Nationen kurz überdeckt worden war, wieder hörbar wird, fühlt sie sich nicht nur meteorologisch an wie die Ruhe vor dem Sturm.

Aber die Olympischen Spiele in Tokio sind eröffnet, vom Kaiser höchstpersönlich. Und jetzt erst mal zum Sport.

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