Natürlich kann man das alles ziemlich affig finden: Wenn einer vor dem 100-Meter-Finale auf der Bahn kaspert und hampelt. Wenn er danach den Sterndeuter gibt und Selfies mit Siebenkämpferinnen schießt. Wenn er sich noch ein bisschen später für unsterblich erklärt. Usain Bolt ist ein hochbegabter Clown - er ist allerdings auch derjenige in diesem Zirkus, der aus einer Kanone in ein Netz geschossen wird, wilde Tiere zähmt und am Trapez schwingt. Er gewann dieses 100-Meter-Rennen, zum dritten Mal nacheinander bei Olympia. Zwischen großen Worten und großen Gesten gab es große Taten, deswegen wollen die Menschen bei seinen Auftritten live dabei sein. Von den 56 437 Zuschauern am Sonntag waren mindestens 56 437 auch wegen ihm gekommen.
Einen Tag später am gleichen Ort: nicht einmal 10 000 Zuschauer - und das, obwohl großer Sport und groteske Momente zu sehen waren. Das 400-Meter-Finale der Frauen endete spektakulär mit der über die Ziellinie purzelnden Siegerin Shaunae Miller (Bahamas). Bei den 800 Metern der Männer rannte Favorit Alfred Kipketer (Kenia) vorneweg, brach dann aber beim Sieg von Landsmann David Lekuta Rudisha ganz schlimm ein. Und es gab da auch noch die armen Hürden-Sprinter, die aufgrund des Regens einfach mal davon schwammen und die Zuschauer zu einer Jubelwelle animierten.
Aber hier noch einmal die bedeutende Zahl dieses Abends: Es waren weniger als 10 000 Menschen gekommen. Jeder Zuschauer hätte viermal seinen Platz wechseln können - und noch immer wäre nicht jeder Sitz im Stadion von einem Hintern berührt worden.
Irgendwann an diesem Abend, da wurde Usain Bolt hereingeholt in dieses Stadion, er wurde für seinen Sieg am Vortag geehrt. Es liegt ganz offensichtlich im Interesse der Organisatoren, Bolt wenigstens ein Mal pro Tag dem Publikum vorzuführen: Vorlauf, Finale, Siegerehrung - dieser Dreiklang kann noch ein paar Tage weitergehen. Bolt stand nun ganz oben auf diesem Treppchen, er lauschte der Hymne seines Landes, er lächelte tapfer. Natürlich sah er, dass da weniger als 10 000 Zuschauer gekommen waren. Ein Showman merkt, wenn da keine Show passiert. "Der Sport braucht Leute, die voller Energie sind, voller Vibes, voller Hype", hatte Bolt einen Tag zuvor gesagt: "Sie wollen Teil des Wettkampfs sein."
Gleichzeitig lief da noch das Finale im Stabhochsprung: Renaud Lavillenie (Frankreich), Weltrekordler und Sieger bei den Spielen 2012 in London, dominierte seinen Kontrahenten, er leistete sich sich lange überhaupt keinen Fehlversuch und schaffte mit 5,98 Metern im ersten Versuch einen neuen olympischen Rekord. Es sah gar so aus, als könne er höher als sechs Meter springen, den ersten Versuch riss er knapp. Die Brasilianer, sie feuerten freilich ihren Landsmann Thiago Braz da Silva an - und der lieferte plötzlich den Wettkampf seines Lebens. Er verzichtete aus taktischen Gründen auf die 5,98 (er hatte die Silbermedaille schon sicher) und versuchte sich an 6,03 Metern. Er lief an, er sprang, er ließ die Latte oben. Persönliche Bestleistung. Olympischer Rekord. Goldmedaille.
Das Publikum, es johlte, als wäre da gerade einer aus einer Kanone durchs komplette Stadion geschossen worden, als hätte er wilde Tiere gezähmt und einen fünffachen Salto am Trapez präsentiert. Da Silva weinte auf seiner Ehrenrunde, die Zuschauer brüllten "Thiago" - und man kann sich nur vorstellen, was nun los gewesen wäre, wenn tatsächlich 56 437 Menschen im Stadion gewesen wären. Die Leichtathletik, sie hat noch mehr Show zu bieten als den 100-Meter-Lauf der Männer. Sie hat Energie, Vibe, Hype - und zum richtigen Zeitpunkt einen Brasilianer, der höher als sechs Meter springt.