Roje Stona musste erst mal etwas klarstellen. Als der Diskuswerfer auf der Pressekonferenz nach seinem Wettbewerb als „erster Medaillengewinner Jamaikas in einer Wurfdisziplin“ vorgestellt wurde, erinnerte er den Moderator daran, dass es hier in Paris ja durchaus schon eine Medaille für sein Heimatland gegeben hatte: Bronze für den Kugelstoßer Rajindra Campbell. So viel Zeit muss sein, schließlich passiert in diesen olympischen Tagen etwas Beachtliches: Das Sprinterland Jamaika ist mit den Werfern und Stoßern gerade am erfolgreichsten. Aus dem Nichts kommt diese Entwicklung allerdings nicht: Schon bei der WM 2019 in Doha gewannen die Kugelstoßerin Danniel Thomas-Dodd und der Diskuswerfer Fedrick Dacres jeweils Silber.
Stona ist der erste Olympiasieger Jamaikas überhaupt bei diesen Spielen, und nach dem Diskusfinale am Mittwochabend mussten alle Teilnehmer erst einmal ihre Eindrücke verarbeiten. „Das war das umkämpfteste Diskusfinale jemals“, sagte Australiens Matthew Denny, der Bronzegewinner, und der sechstplatzierte Clemens Prüfer aus Potsdam merkte an: „Diesen Wettkampf werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“ Zwei olympische Rekorde, dazu der Überraschungssieger aus Jamaika mit einer Punktlandung auf die Weite von 70,00 Meter – spektakulärer hätten sie sich diesen Abend kaum wünschen können.
„Ich muss mir jetzt viele Gedanken machen“, sagt Stona nach seinem Olympiasieg. Vielleicht geht er bald in die NFL
Eigentlich wollte Litauens Mykolas Alekna, 21, seinem Vater Virgilijus nacheifern, der in Sydney und Athen Olympiagold gewonnen hatte. Und als der Sohn, seit April auch Weltrekordhalter, den Diskus im Stade de France im zweiten Versuch auf 69,97 Meter schickte, kam er seinem Ziel schon sehr nah. Das war olympischer Rekord, wer sollte das noch übertreffen? Roje Stona hatte bisher noch keine einzige Medaille bei internationalen Meisterschaften abstauben können. Was ihn dann aber nicht daran hinderte, bei Olympia groß aufzutrumpfen. Im vierten Versuch schleuderte er den Diskus noch drei Zentimeter weiter als Alekna. „Ich hatte nichts zu verlieren“, sagte der 25-Jährige, „jetzt fühlt es sich großartig an.“
Trainiert wird Stona von US-Kugelstoßer Ryan Crouser, der in Saint-Denis vor ein paar Tagen selbst schon Olympiasieger geworden war, zum dritten Mal. Auch mit der Kugel ist Stona talentiert, seine Bestweite von 20,48 Metern hätte im Finale für Rang zehn gereicht. Und im Speerwurf waren Stona in diesem Jahr schon vor seinem olympischen Auftritt 69,09 Meter gelungen.
„Ich wusste immer, dass große Weiten in ihm stecken“, sagte der Drittplatzierte Denny, dessen 69,31 Meter in Tokio noch für einen triumphalen Sieg gesorgt hätten. In Traves Smikle und Ralford Mullings schafften es insgesamt drei jamaikanische Diskuswerfer ins Finale in Saint-Denis, für Deutschland war nur Prüfer dabei, der auf 67,41 Meter kam und überglücklich war. „Das war wahrscheinlich der beste Diskuswettkampf aller Zeiten. Mit meiner Leistung hätte ich in Tokio Bronze geholt“, sagte er. Es wäre aber sogar Silber geworden.
Für seinen Olympiasieg gibt es 50 000 Dollar vom Weltverband, nur ein Bruchteil im Vergleich zu den NFL-Gehältern
Roje Stona ist ein Mann mit vielen Talenten, nicht nur in der Leichtathletik. Noch vor ein paar Monaten absolvierte er Probetrainings bei den NFL-Teams der Green Bay Packers und der New Orleans Saints, mit einem Kaderplatz klappte es bisher nicht. Trotzdem liebäugelt er noch mit einer Football-Karriere, auch weil die Leichtathletik immer wieder um Aufmerksamkeit kämpfen muss. „Ich muss mir jetzt viele Gedanken machen und einige Entscheidungen treffen“, sagte Stona nach seinem Olympiasieg. Für seinen Erfolg gibt es 50 000 Dollar vom Weltverband, nur ein Bruchteil im Vergleich zu den NFL-Gehältern.