Olympia:Die fliegende Tomate greift an

Pyeongchang 2018 Winter Olympics

Die Qualifikation in Pyeongchang hat Shaun White bereits gewonnen.

(Foto: REUTERS)
  • Snowboarder Shaun White will am Mittwoch (2.30 Uhr deutscher Zeit) das Finale in Pyeongchang gewinnen.
  • In Sotschi wurde er nur Vierter - danach begann eine lange Sinnsuche für den inzwischen 31-Jährigen.
  • Die Frage, die sich stellt: Wie kann er noch mal all die überholen, die ihn eigentlich schon abgelöst hatten? Denn die Grenzen verschieben derzeit andere Athleten.
  • Alle Ergebnisse und den Medaillenspiegel finden Sie hier.

Von Johannes Knuth, Pyeongchang

Die Kamera schwenkte auf den Snowboarder Shaun White, und man blickte in das Gesicht eines Suchenden.

Es war Anfang Januar, White schob sich aus dem Starthaus beim Halfpipe-Weltcup in Aspen, der 31-Jährige wollte sich für die Winterspiele im folgenden Monat qualifizieren. Er hatte die Läufe der Konkurrenten verfolgt und einen Plan geschmiedet, wie er sie überbieten würde, wie immer. Aber kurz bevor der Sprecher ihn aufrief, überfielen White plötzlich Zweifel. Er sprach mit seinem Trainer JJ Thomas, änderte seine Choreografie in letzter Sekunde, was kein ganz schlechter Beschluss war, denn was dann folgte, verdiente das Prädikat historisch: White knüpfte Drehungen an Salti und Drehungen, er pinselte einen 1440 Double Cork in den Himmel, vier Drehungen um drei Achsen. Die Kampfrichter versüßten Whites Darbietung mit einer Note, die sie ihm nur einmal in seiner langen Karriere gegönnt hatten: 100 von 100, Perfektion.

Nur Vierter in Sotschi - das nagte

Aber selbst nach diesem Lauf wirkte White wie ein Zweifelnder. Er erzählte später von dem Moment, als er sich aus dem Starthaus schob, kurz nach seiner ersten Planänderung, und prompt an der neuen Choreo zweifelte: Hey, dachte White - welchen Lauf zeige ich jetzt eigentlich?

Shaun White aus San Diego, Kalifornien, hat 2006 und 2010 olympisches Gold in der Halfpipe gewonnen, er hat das Snowboarden seit einer halben Ewigkeit geprägt und immer wieder erneuert, mit seinen Tricks und seiner Strahlkraft. Aber wer auf dem Gipfel ist, muss irgendwann auch mal herabsteigen und neue Pfade finden. Snowboarden, sagte White bei den Spielen 2014 in Sotschi, als er nur Vierter geworden war, "ist nur ein Teil von dem, was ich bin". Jetzt ist er in Südkorea, nach vierjähriger Sinnsuche, quasi am Anfang angekommen. Er hat sich wieder dem verschrieben, was ihn am besten erfüllt: snowboarden. Das Finale am Mittwoch (2.30 Uhr MEZ) in Pyeongchang ist sein viertes, er will es gewinnen, natürlich. Wenn da nicht diese Frage wäre, die sich der 31-Jährige gewissermaßen auch in Aspen gestellt hatte: Wie kann er noch mal all die überholen, die ihn eigentlich schon abgelöst hatten?

Nötig hätte er das alles ja nicht mehr. White ist nicht nur eine olympische Überfigur und Inhaber von 15 Erfolgen bei den X-Games, der amerikanischen Freestyle-Messe. Er ist längst seine eigene Firma. Er kaufte Skiresorts, brachte Computerspiele mit seinem Namen heraus, sein Vermögen soll bei 35 Millionen Euro liegen. Dieser Lebensplan habe seit der Kindheit nun mal vor ihm gelegen, erinnerte sich White in diesen Tagen in Pyeongchang, weißer Pulli, die dunkelroten Haare akkurat nach hinten getrimmt. "Ich war 19, hatte riesige Sponsoringverträge, von da an war klar, wer ich bin und was ich tun werde", sagte White. Sprich: der Großmeister des Actionsports sein. Auf dieser Welle fuhr er zu seinen Erfolgen. Irgendwann war es dann eine Furcht, die ihn antrieb, die Angst, den Nimbus der Unantastbarkeit zu verlieren. Bis es schließlich passierte, in Sotschi.

White stürzte im ersten Lauf, zeigte einen guten zweiten. Gut, aber nicht Shaun-White-gut. Platz vier, sagte White später, fühlte sich an, als sei plötzlich eine Blase geplatzt. Jetzt waren es die anderen, die seinen Sport und damit auch White erneuerten. Iouri Podladtchikov zum Beispiel, Olympiasieger aus Zürich mit russischen Wurzeln, der seine Läufe gestaltet wie ein Bildhauer und nebenbei an Fotografie, Ballett und Immobilien interessiert ist.

Es wird nicht einfacher für White

White machte noch in Sotschi ein Sabbatical mit sich aus. Er nahm sich Zeit für Familie und Freunde; vielleicht, dachte White, würde er dann irgendwann wieder Sehnsucht nach seinem Sport verspüren. Er trat mit seiner Rockband "Bad Things", die er 2013 gegründet hatte, bei diversen Festivals auf; White war Gitarrist, der Trubel war anfänglich groß, doch er verdampfte genauso schnell, wie er aufgekommen war. Schlagzeugerin Lena Zawaideh drohte mit einer Klage, White habe sie sexuell belästigt. Im vergangenen Mai verkündete White, man habe sich geeinigt. Details nannte er nicht. Der Vorfall trieb ihn offenbar zurück in den Sport, auch wenn der US-Amerikaner das in Pyeongchang etwas netter formulierte. Die Zeit, in der er Snowboard als Nebengeschäft betrieben hatte, habe ihm dem Sport wieder näher gebracht: "Das Gefühl, wenn ich einen Trick stehe und gewinne, ist unglaublich", sagte er: "Es fühlt sich einfach richtig an."

White hatte mal lange, knallrote Locken, die bei jeder Drehung um seinen Helm herumwirbelten, sie nannten ihn Flying Tomato, fliegende Tomate. Heute hat er die Haare getrimmt, als wolle er auch optisch zum Ausdruck bringen, dass er mit den alten Zeiten und Spitznamen abgeschlossen hat. Er stürzte im vergangenen Oktober in Neuseeland so heftig, dass Lunge und Zunge mit 62 Stichen genäht wurden.

Aber mit den 100 Punkte in Aspen zerstreute White alle Zweifel an seiner Form. Auch wenn viele später lästerten, die Richter hätten White zu großzügig bewertet. Mal wieder. White bestätigte das indirekt, als er sagte: "Ich denke nicht, dass wir meinen besten Lauf schon gesehen haben." Die Grenzen verschieben derzeit die anderen; der Australier Scott James, Podladtchikov (der Olympia verletzungsbedingt verpasst), vor allem der Japaner Ayumu Hirano. Der 19-Jährige landete bei den X-Games Ende Januar in einem Lauf zwei Sprünge mit vierfacher Drehung, das hatte zuvor noch kein Snowboarder geschafft.

"Das war inspirierend und eine gute Motivation", sagte White. Er probierte sofort, im Training nachzuziehen. Die Qualifikation in Pyeongchang gewann er am Dienstag souverän, das Finale am Mittwoch könnte wieder ein historisches werden, und White hat längst zu erkennen gegeben, dass er auch 2022 wieder dabei sein will. Vielleicht sogar 2020, weil Skateboarden in Tokio erstmals olympisch sein wird. Es wird nicht einfacher, die Jungen sind exzellent ausgebildet und hungrig, vor allem die Asiaten drängen in die Spitze, Olympia ist bis Peking 2022 auf Fernost-Tournee. Aber immer wieder gewinnen zu können oder zu müssen, sagte White in Pyeongchang, erachte er mittlerweile als ein "großartiges Problem, das man haben kann". Das klang schon weniger nach einem Suchenden. Sondern nach einem, der angekommen ist.

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