Olympia:Die Athleten sind raus aus der Käfighaltung

Olympia: Höflich abgeklatscht, doch Australiens Mack Horton (Mitte) äußerte deutliche Kritik am einst wegen Doping gesperrten Sun Yang (li.)

Höflich abgeklatscht, doch Australiens Mack Horton (Mitte) äußerte deutliche Kritik am einst wegen Doping gesperrten Sun Yang (li.)

(Foto: AFP)

Politikfreie Spiele? Von wegen. In Rio werden die vormals strengen Verhaltensregeln einfach ignoriert. Daran ist das IOC selbst schuld.

Kommentar von Thomas Kistner, Rio de Janeiro

Es war einer der größten Aufreger 2014 in Sotschi, bei den letzten Olympischen Spielen: Das IOC verwarnte das norwegische Team. Wegen welchen Vergehens? Die Langläuferinnen waren mit Trauerflor in der Loipe; der Bruder einer Teamkollegin war verstorben. "Wir glauben, die festliche Atmosphäre der Wettkampfstätten ist nicht der richtige Ort für Trauer", teilte das Internationale Olympische Komitee damals mit. Die halbe Welt empörte sich über die Kaltherzigkeit der Ringe-Bosse.

Zwei Jahre später wäre Trauerflor das geringste Problem. Die festliche Atmosphäre hat sich in Rio in eine handfeste verwandelt. Unter den Schwimmern sind verbale Schlachten entbrannt, Anschuldigungen werden erhoben, Handschläge verweigert, abfällige Gesten geübt. Amerikaner, Australier und andere attackieren die Russen; ein Franzose sagt über Chinas Olympiasieger Sun Yang: "Der pinkelt lila. Wenn ich das 200-Meter-Freistil-Podium sehe, will ich kotzen." Serbiens Sportminister ruft seine Athleten auf, Medaillenfeiern mit Kosovo-Sportlern zu boykottieren, ein Libanese verweigert Israelis den Zustieg in den Bus zur Eröffnungsfeier.

Das Wichtigste zu Olympia 2016 in Rio

Jeder einzelne dieser Vorfälle hätte bis vor Kurzem drastische Sanktionen nach sich gezogen. In Rio aber frisst das IOC säckeweise Kreide. Zum Kalten Krieg am Beckenrand hat Sprecher Mark Adams Revolutionäres formuliert: "Wir können ihnen letztlich nicht das Sprechen verbieten."

Die reale Welt torpediert das Werbebild

Das ist jetzt nicht mehr einzufangen. Bisher hat der Ringe-Konzern ja sehr wohl das Sprechen der Athleten reglementiert, sofern es nicht strikt im aufgeblasenen Wertekanon der Bewegung lag. Nun tritt das mal misstrauische, mal aggressive Innenleben dieser Welt aus Höchstleistern täglich freier zutage. Es geht halt zu wie im richtigen Leben.

Die reale Welt aber kann der Milliardenkonzern IOC überhaupt nicht brauchen. Denn die torpediert das Werbebild, das es einem gläubigen Publikum seit Dekaden vorgaukelt. Dieses Bild zeichnet den Athleten aus der olympischen Käfighaltung, frohgelaunt, fair und fleißig in der Medaillenlegebatterie. Wenn nun erkennbar wird, dass auch Sportler nur ganz normale Individuen sind und die Welt, in der sie agieren, durchzogen ist von Brüchen, Widersprüchen und Gier - dann ist das Geschäftsmodell gefährdet.

Das IOC erntet gerade den Sturm, den es gesät hat mit seiner Russland-Politik, deren Botschaft ja letztlich war: Selbst das dreisteste Staatsdoping-Komplott ist nicht schlimm genug für eine harte Sanktion. Seit Beginn der Spiele haben die Verhaltensregeln des IOC nun dieselbe Bedeutung wie die Verkehrsregeln auf Rios Straßen: Man ignoriert sie.

Die Mär von den politikfreien Spielen

Und es kommt noch dicker. Auch die zweite olympische Attrappe stürzt in Rio ein: die Mär von den politikfreien Spielen. Ein brasilianisches Gericht erlaubt jetzt friedliche politische Proteste an den Sportstätten, zuvor hatten die Olympia-Organisatoren wiederholt Demonstranten aus den Stadien gejagt. Natürlich will das Organisationskomitee das Urteil anfechten, das die Albträume des IOC zulässt: Parolen auf Plakaten und T-Shirts.

Ob das klug ist, muss sich zeigen: Die bisher überschaubaren Proteste in den Stadien gegen Brasiliens Übergangspräsidenten Michel Temer könnten anschwellen und sich auf die Straßen verlagern. Dort reicht der Arm des IOC nicht hin. Staatliche Instanzen werden in Brasilien nun entscheiden, was mehr wiegt: das Recht auf Meinungsfreiheit - oder das unter dem Druck des IOC verabschiedete Olympia-Gesetz, ein Mix aus Verboten und Knebelungen für den vom Sport besetzten öffentlichen Raum?

Vielleicht trägt das Modell Olympia nicht mehr lange

Es gibt ja in der Tat kaum ein politischeres Event als die Spiele, aufgeladen mit nationalen Energien bis zum Stadionrand, schon deshalb ist es gut, dass ein Bundesrichter das einmal so festhält: Die Proteste gegen Temer zeigen gerade die gesellschaftliche Bedeutung der olympischen Bühne. Dass das IOC nicht zulassen kann, dass Athleten und Zuschauer die Konflikte der Welt in seine Stadien tragen, ist das eine. Das andere ist: Bürger eines Landes, das gegen den Mehrheitswillen Milliarden in ein Sportfest pumpt statt in dringend benötigte Krankenhäuser, Schulen und Straßen (in solche, die nicht zu Stadien führen), müssen ihren Unmut friedlich artikulieren dürfen. Auch beim Sport - zumal, wenn dort die Welt hinschaut.

Das IOC schluckt das alles und schweigt. Es weiß, es herrscht Meuterei. Es muss erkennen: Der Riss ist da. Das ist nur möglich, weil der Ringe-Clan um Thomas Bach förmlich dazu eingeladen hat. Er hat in Rekordzeit alle Glaubwürdigkeit und jede moralische Kraft verloren. Das Modell Olympia wird vielleicht nicht mehr allzu lange tragen. An der Idee liegt es nicht. Olympia ist in die falschen Hände geraten. In die Hände einer Sportfamilie, die der wahre Adressat vieler zorniger Gesten von Rio ist.

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