Zehn deutsche Olympiasiege haben die Spiele in Tokio hervorgebracht. Nach ihrer Rückkehr bekommen die Olympiasiegerinnen und Olympiasieger von ihrem Heimatland kein Haus geschenkt und keine lebenslange Rente garantiert, wie das in anderen Ländern üblich ist. Dafür erhalten all jene, die von der Deutschen Sporthilfe gefördert werden, eine Überweisung von der Stiftung: 20 000 Euro zahlt sie für eine Goldmedaille, 15 000 für Silber, 10 000 für Bronze. Und weil es zum deutschen Selbstverständnis gehört, nicht nur Podestplätze zu belohnen - über die oft nur Hundertstelsekunden entscheiden oder die Frage, ob ein Ball gegen den Pfosten oder ins Tor springt -, gehen die Prämien gestaffelt bis hinunter zu Rang acht. Der bringt noch 1500 Euro, besser als nichts. Aber: Dafür nimmt sicher kein junger Mensch die jahrelangen Mühen auf sich, um irgendwann einmal Olympionike zu werden.
Warum wird man heutzutage Schwimmer, Hockeyspielerin, Hürdenläuferin, Judoka, Kanute? Das fragen sie sich auch beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), wo sie angesichts der schlechtesten Bilanz seit der Wiedervereinigung (37 Medaillen, in Rio 2016 waren es noch 42) die Nachwuchsarbeit ausbauen wollen. Den Lebensunterhalt vieler deutscher Kaderathleten sichern die Bundeswehr, der Zoll oder die Bundespolizei, dafür muss man sich aber für eine staatliche Sportfördergruppe entscheiden. Die Sporthilfe wiederum war für 350 der 432 Tokio-Teilnehmer auch mit ihren monatlichen Zahlungen wichtig; nur wenige im deutschen Team brauchen diese Hilfe nicht, etwa Tennis- und Golfprofis und Fußballer. Und die Stiftung unterstützt Athleten auch bei der Persönlichkeitsentwicklung und bei der dualen Karriere. Alles wertvolle Bausteine, aber sie ändern nichts am Kernproblem: Ruhm und Reichtum kann der deutsche Sport seinen Olympiasportlern nicht in Aussicht stellen.
Was also treibt Athleten an, wenn es das Geld nicht ist? Drei Tokio-Teilnehmer und ihr ganz persönlicher Blick auf die Frage, warum es sich auch in Deutschland lohnt, Olympiasportler zu sein.
"Ohne das Schwimmen hätte ich mein Abi wohl nicht geschafft"
Henning Mühlleitner, 24, Schwimmer. Wurde in Tokio Vierter über 400 Meter Freistil.
Meine Eltern waren in der Entwicklungshilfe tätig, deshalb habe ich als Kind drei Jahre in Ghana gelebt. Als ich fünf war, sind wir zurück nach Schwäbisch Gmünd gezogen, das war dann ein kleiner Kulturschock. Warm zu werden mit den anderen Kindern, das fiel mir anfangs nicht leicht. Im Schwimmverein hatten wir eine coole Trainingsgruppe, der Verein ist sehr familiär und dennoch leistungsorientiert. Es gab ein paar richtig starke Schwimmer in meinem Jahrgang, da peitscht man sich gegenseitig immer weiter. Aber es gab nicht diesen einen Moment, in dem ich wusste: Ich will Leistungsschwimmer werden, ich will zu Olympia!
Als ich 15, 16 war, in der zehnten Klasse, hab ich gemerkt: Okay, das mit dem Abitur, das wird eher nichts. Ich war ein Chaot in der Schule, was mir heute keiner mehr glaubt. Ich kann nicht mehr sagen, was wichtiger wog: die Erkenntnis, dass ich etwas ändern muss, um die Schule zu schaffen, oder die Aussicht, meinen Sport mal richtig intensiv zu betreiben. Jedenfalls war ich dann für eine Probewoche am Stützpunkt und am Sportgymnasium in Saarbrücken. Ich habe mich da direkt megawillkommen gefühlt. Also habe ich zu meinen Eltern gesagt: Unterschreibt mir das, morgen schicken wir es ab! Nach der Probewoche bin ich schon so brutale Bestzeiten geschwommen, dass für mich klar war: Das zahlt sich richtig aus. Jetzt will ich wissen, wie weit es noch gehen kann.

Ohne das Schwimmen hätte ich mein Abi wohl nicht geschafft. Ich habe gar nicht mehr gelernt als vorher. Aber die Struktur war wichtig, das Umfeld - der Rest kam von allein. Und Bezugspersonen waren wichtig. Hannes Vitense, der heutige Bundestrainer, war in Saarbrücken mein Mentor, den konnte ich alles fragen, auch zu Themen jenseits des Beckens. 2017 hat mich dann der Unternehmer und Trainer Christian Hirschmann angesprochen, ob ich mir vorstellen kann, nach Neckarsulm zu kommen, er habe da so eine Idee für einen neuen, ambitionierten Schwimmstandort. Ich bin dann mit einem anderen Schwimmer bei Christian und seiner Frau in eine WG eingezogen. Das waren dann wieder ganz wichtige Bezugspersonen - und sind es bis heute. Die brauchst du als Athlet.
Wenn man reich und berühmt werden will, ist man beim Schwimmen tatsächlich falsch. Geld oder Ruhm machen dich aber auch nicht schneller. Ich bin 2016 von der Bundeswehr in die Sportfördergruppe aufgenommen worden, da kriegt man ein ordentliches Gehalt, nur für seinen Sport. Ich dachte damals: Wenn mir die finanziellen Sorgen aus dem Kopf sind, kommt bestimmt eine Leistungssteigerung. Aber damals war in Saarbrücken das Team auseinandergegangen. Das Geld war auf dem Konto, aber davon konnte ich mir kein Team kaufen. Deshalb bin ich dann nach Neckarsulm. Heute studiere ich Wirtschaftsinformatik in Heilbronn, seit 2017 arbeite ich als Werkstudent. Und ich werde von der Sporthilfe unterstützt. So kommt man über die Runden, auch wenn es mehr Selbstorganisation bedeutet.
Würde ich mir vom Staat und der Gesellschaft mehr Anerkennung erwarten für uns Olympiasportler? Vielleicht ein bisschen mehr. Die Programme der Bundeswehr helfen definitiv sehr. Aber ein Leben lang eine Rente für einen Olympiasieg zu bekommen, wie in anderen Ländern, das fände ich falsch. Setzt du dich dann zu Ruhe mit deiner Goldmedaille, aber hast nie was gelernt, studiert oder gearbeitet? Der Staat soll mir nicht mit 24 meinen Ruhestand bezahlen. Ich weiß gar nicht, ob ich für den vierten Platz in Tokio etwas von der Sporthilfe kriege. Ich weiß auch nicht, was ich als Olympiasieger bekommen hätte. Ich bin ja als Vorlaufschnellster reingegangen ins Finale, aber ich habe mich keine einzige Sekunde gefragt: Wenn ich das hier wirklich gewinnen sollte, wie viel Geld kriege ich dann? Keine einzige Sekunde.
"Ich war froh über die dicke Rüstung"
Julia Sonntag, 29, Torhüterin der Hockey-Nationalmannschaft. Verlor mit ihrer Auswahl in Tokio im Viertelfinale gegen Argentinien.
Es ist schwer zu sagen, ob ich als Feldspielerin im Hockey auch so eine Leidenschaft entwickelt hätte, ob ich auch so lange durchgehalten hätte. Ab eines ist klar: Die Position als Torhüterin hat mich besonders motiviert. Dabei war dieser Posten damals, mit zwölf Jahren, gar nicht so begehrt. Mich aber hat das gereizt.
In meiner Familie hat niemand Hockey gespielt, das war Neuland. Ich war aber mit Jessica Hilgers in einer Klasse, der Tochter von Olympiasieger Michael Hilgers, der in Mönchengladbach, wo ich jetzt auch wieder lebe, den Hockeypark errichtet hat. Meine Freundin sagte also, wir gehen jetzt Hockeyspielen, und ich sagte mir: Das will ich auch.
Und dann ging's los - wir brauchten eine Torhüterin. Ich konnte mir das vorstellen, die anderen weniger, und dann standen Papa oder Mama immer hinterm Tor, mit einem Eimer voll kaltem Wasser und haben geguckt, dass mir nicht zu warm wird in der dicken Rüstung. Es war super, dass ich mit den Eltern Zeit verbringen konnte, das hat mich auch dazu bewegt, im Tor zu bleiben. Außerdem durften sie anfangs die Tasche hin- und hertragen, die ja schwer war, wegen der Ausrüstung.

Auch wegen der Tasche ist die Torwartposition weniger begehrt. Wir kommen ja gerade aus der Hitze in Tokio, wo es teils 40 Grad auf dem Platz hatte. Aber auch sonst muss man sagen, die Sache an sich stinkt ganz schön, überhaupt, es ist nicht das Angenehmste auf der Haut. Und wenn es heiß wird, muss man sich gut organisieren, viel trinken, damit man nicht eingeht. Und dann immer diese Tasche, die im Zug nicht zwischen die Sitze passt! Aber das alles hat mich nicht davon abgehalten, ins Tor zu gehen.
Es gab kleinere und größere Gründe für diese Rolle. Damals hatten Feldspielerinnen noch diese Faltenröcke, die mit einem Clip an der Seite festgemacht wurden. Darunter musste man immer eine Radlerhose oder Ähnliches tragen, weil man in jedem Spiel den Rock mindestens einmal verloren hat. Ich war also froh, dass ich die Rüstung, meinen Transformer-Aufzug, hatte. Da sah ich aus wie eine dieser Filmfiguren mit den gepanzerten Oberkörpern und schlüpfte in eine andere Rolle.
Man war sozusagen die letzte Frau, die auf diesem Feld steht, die den Überblick über das Spiel hat, die gucken konnte, was passiert. Die Keeperin zog den Helm auf und war der Rückhalt. Zum Glück hatte ich auch keine Angst vor dem Ball, es gab zwar jedes Mal blaue Flecken, dafür trug ich keine Platzwunden am Kopf davon wie die Feldspielerinnen. Ich war die, die sich hinstellte und sich sagte, ich sehe ganz anders aus, aber ich fand das total cool, auch das hat mich beflügelt.

Ich habe gerne den Überblick. Etwas in meinem Rücken zu haben, gefällt mir nicht. Mir ist es wichtig, zu sehen, wo der Gegner auftaucht, was als Nächstes passieren könnte. Ich mag es zu antizipieren, etwa welche Ecken-Variante der Gegner plant, auch das gegenseitige Vortäuschen, dieses Katz-und-Maus-Spiel.
Ohne das Torwartspiel wäre für mich wohl vieles anders gelaufen. Über Jahre eine Position mit so viel Verantwortung zu haben, weil ein Fehler meist zu einem Tor führt, das hat mich auch im Leben weitergebracht. So einen Druck früh kennenzulernen, etwa bei einer Strafecke kurz vor Schluss, die du wirklich halten musst - das ist eine gute Schule. Ich bin viel hingefallen, aber weil ich den Ehrgeiz hatte, dass es an mir letztlich nicht liegen soll, bin ich immer wieder aufgestanden. Die Erfahrung half etwa auch beim Staatsexamen für meinen Beruf als Zahnärztin.
Ich habe als junge Hockeytorhüterin erlebt, wie es ist, wenn man deutscher Meister wird, 2012 mit Rot-Weiss Köln. Damals war ich noch total ahnungslos, und diese Szenen, wie ich da auf dem Platz rumlaufe, sind immer noch in meinem Kopf. Andererseits zuletzt: diese monatelange Vorbereitung, diese Vorfreude auf Olympia! Und dann gegen Argentinien so zu verlieren, wo wir uns doch viel mehr erhofft hatten - das sind Bilder, die auch erst mal bleiben.
Man muss Verantwortung übernehmen, gemeinsam, das lernt man im Hockeysport gut. Teamsport bedeutet, man ist nicht alleine, wenn alle auf dem Platz wirklich an Bord sind - das ist im sonstigen Leben genauso. Ich habe das jedenfalls schon erfahren, im Studium und auch in der Praxis.
"Ich muss nicht alles auf eine Karte setzen"
Carolina Krafzik, 26, 400-Meter-Hürdenläuferin. Erreichte in Tokio mit persönlicher Bestzeit das Halbfinale, schied mit der 4x400-Meter-Staffel im Vorlauf aus.
Spitzensport und Lehramtsstudium, das hat für mich immer hervorragend zusammengepasst. Die Arbeit in der Schule macht mir große Freude und verschafft mir einen Ausgleich, vor allem für den Kopf - weil man im Sport ganz schnell verletzt auf der Couch hocken kann. Gleichzeitig hat mir der Sport Dinge ermöglicht, die einem im normalen Leben nie widerfahren können: die beste Deutsche in meiner Disziplin sein, an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen teilnehmen.
Ich bin ziemlich klassisch zum Sport gekommen: von klein auf im Verein, bei der TSG Niefern in der Nähe von Pforzheim, so richtiges Dorfleben. Meine Eltern waren beide Leichtathleten, nach und nach bin ich immer besser geworden, erst im Mehrkampf, weil meine Trainerin viel Wert auf Vielseitigkeit gelegt hat, dann über die Hürden. Mich hat die duale Karriere schon früh begleitet, weil ich nicht davon ausgehen konnte, es mal so weit im Spitzensport zu schaffen.
Als ich das Abitur und mein Freiwilliges Soziales Jahr in meinem Heimatverein gemacht habe, bin ich schon ein, zwei Mal die Woche zum Landestrainer nach Stuttgart gependelt. Ich wollte aber immer Lehrerin werden, weil ich es mochte, Kinder und Jugendliche zu betreuen. Von daher habe ich etwas gesucht, das beides vereint: das Lehramtsstudium in Ludwigsburg, auf Deutsch und Sport, und die Trainingsgruppe von Werner Späth beim VfL Sindelfingen. Ohne Werners riesigen Erfahrungsschatz bin ich nicht sicher, ob ich mich jemals mit ganzem Herzen von den 100 auf die 400 Meter Hürden getraut hätte. Seit dem Wechsel ging es jedenfalls gefühlt nur noch bergauf.

Klar, Sport und Beruf, das ist sehr stressig, man muss sich wahnsinnig gut organisieren. Aber ich habe dabei auch gelernt: Es ist fast alles machbar. An der Uni ging das noch sehr gut, vormittags die Kurse, dann gleich ins Auto zum Training. Das Referendariat war schon stressiger, da habe ich es sehr geschätzt, dass das Kultusministerium in Baden-Württemberg mittlerweile sogenannte Spitzensportstellen anbietet. Ich habe meine 13 Stunden in der Schule verbracht, wie jeder andere Referendar auch - nur wenn ich schon am Freitag zum Wettkampf musste, wurde ich freigestellt. Die anderen Stunden, zur Unterrichtsvorbereitung und, und, und, die musste ich eben drum herumbauen. Diese Spitzensportstelle habe ich auch, wenn ich ab September an einer Grundschule anfange, erst mal mit einer halben Stelle und ohne die Verantwortung als Klassenlehrerin. So kann die Schule es auch besser ausgleichen, wenn ich mal zwei Wochen im Trainingslager bin.
Ich kenne einige Spitzensportler, für die das gar nichts wäre. Aber ich würde diesen Weg nie missen wollen. Man lernt sehr schnell: Wo sind meine Grenzen? Was sind meine Prioritäten? Wenn ein Training mal nicht so läuft, habe ich auch gar keine Zeit, mich darüber aufzuregen, weil ich zu Hause noch etwas für die Schule vorbereiten muss. Das bringt wiederum einen Schuss Gelassenheit für den Sport. Ich weiß auch: Wenn ich meine Karriere beende, kann ich nahtlos in meinem Beruf weitermachen, ich muss keine Prüfung mehr schreiben oder mich um einen Job kümmern.

Wenn man nur in der Spitzensportblase unterwegs ist, verliert man manchmal ein bisschen den Bezug zur Normalität. Mir wurde in der Schule auch schon gesagt: Frau Krafzik, Sie können auch mal langsamer machen mit dem Lehrplan! Ich bin es halt gewohnt, alles sehr exakt und leistungsbetont durchzuziehen. Ich bin auch total froh, dass ich noch einen großen Freundeskreis in der Heimat habe, dort, wo ich mit der Leichtathletik angefangen habe. Die akzeptieren auch, wenn ich sage: So, jetzt will ich mal nichts vom Sport wissen! Ich finde das sehr beruhigend zu wissen: dass Spitzenleistungen möglich sind, ohne dass ich alles auf eine Karte setzen muss.