Achtung, Achtung, alle mal herhören, rief die freundliche Frau, die den Abend über die Pressekonferenzen im Bauch des Olympiastadions moderiert hatte. Man habe sich etwas Nettes ausgedacht für die letzte Fragerunde des Abends. Die Journalisten mögen bitte je drei Fragen an den Kanadier Andre De Grasse und den Franzosen Christophe Lemaitre richten. Beide waren gerade Zweiter (20,02) und Dritter (20,12) über 200 Meter hinter Usain Bolt geworden. Dann möge man so tun, als gäbe es keine weiteren Fragen an den Olympiasieger. "Als Scherz", sagte die Pressefrau, "ein Rollenspiel, um ein bisschen Spaß zu haben. Wir machen danach natürlich normal weiter."
"Habt ihr Lust?"
Die Reporter hatten Lust. Sie eröffneten die Runde mit drei Fragen an Bolts Beisitzer. Der Blick des Jamaikaners tastete kurz den Saal ab. Ansonsten tippte er gelangweilt in sein Handy. Ein südamerikanischer Fernsehjournalist hatte nun doch eine Frage für Bolt, er hatte den Arbeitsauftrag nicht verstanden, vielleicht hatte er auch keine Lust auf alberne Rollenspiele und wollte seiner Arbeit nachgehen. Die Moderatorin fiel ihm hastig ins Wort, die Kollegen buhten ihn aus.
Es war der passende, vorläufige Schlussakt in diesem bizarren Theaterstück, das Bolt in den vergangenen drei Wochen in Rio de Janeiro aufgeführt hatte, mit Sambatänzerinnen, rappenden TV-Reportern und auch sonst vielen Journalisten, die mit der Show verschmolzen. Als ein Reporter Bolt auf das Rollenspiel ansprach, ob das nicht eine lustige Idee gewesen sei, lächelte er matt. Dann sagte er: "Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn ihr mich nichts gefragt hättet. Ich hätte hier einfach gechillt."
Bolt kann nichts mehr beweisen
Es war am Ende ein müder Ausstand, den Usain Bolt, 29, nach seinem letzten Einzelrennen auf der olympischen Bühne gab. Er hat am Donnerstag die 200 Meter gewonnen, in 19,78 Sekunden. Weil Bolt in Peking 2008 und London 2012 auch schon die 200 Meter für sich entschieden hat, ist er auf dieser Strecke nun ein dreimaliger Olympiasieger. Und weil ihm die 100 Meter am vergangenen Wochenende ebenfalls zufielen wie in Peking und London, ist er sogar ein dreimaliger Doppel-Olympiasieger. Und weil er nun, die Staffelerfolge von 2008 und 2012 eingerechnet, insgesamt also achtmaliger Olympiasieger ist, fand Bolt, es sei jetzt wirklich genug mit dem Sprinten.
"Dafür bin ich hierher gekommen", sagte er, "deshalb habe ich gesagt, dass dies meine letzten Spiele werden sollen. Weil ich danach nichts mehr beweisen kann." Allein die Zeit, eine mäßige für seine Verhältnisse, machte ihm zu schaffen. Zumal Bolt im Halbfinale die identische Zeit joggend ins Ziel gebracht hatte, während er mit De Grasse auf den letzten Metern Grimassen schnitt. "Ich werde älter", sagte Bolt, der am Sonntag 30 wird, "ich erhole mich nicht mehr so schnell wie früher. Mein Körper hat mich nicht so recht mitgenommen."
Da war was dran. Die größte Dynamik dieses olympischen Finals steckte diesmal bereits im Vorprogramm. Als Bolt mit seinen sieben Begleitern das Stadion betrat, breitete er beide Arme aus, badete im Jubel, der von den Tribünen herabregnete. Die Zuschauer kreischten jedes Mal, wenn er sich zur Probe aus dem Startblock hob.
Das richtige Rennen gelang ihm dann nur bedingt. Er entwischte dem Feld früh, bog auf die Zielgerade ein, das war der Moment, in dem er dem Rest früher oft davonspaziert war. Aber Bolt war die Verkrampfung anzusehen, er kam nicht weg, wie ein Auto mit stotterndem Motor, den man aus Versehen mit Diesel statt Benzin gefüttert hat. Bolt sank im Ziel auf die Knie.
Er wirkte erschöpft. Die Ehrenrunde absolvierte er im Schritttempo, die Stadionregie spielte Bob Marleys "One Love" ein, von Nationalheld zu Nationalheld quasi. Ansonsten waren die letzten Minuten nicht von der üblichen Leichtigkeit umspielt, die man von Bolt kennt. Die drei Besten schleppten sich durchs Stadion, als kämen sie gerade von einer 16-stündigen Schicht im Bergwerk. Vielleicht war das gar kein schlechtes Zeichen, nach Jahren, in denen Bolt die Weltrekorde scheinbar spielerisch in unwirkliche Dimensionen verrückt hatte.
Wenn das Alte für Neues Platz schafft, kann das befreiend wirken, wie der Regen, der die schwüle Luft in der Nacht zum Freitag in Rio gereinigt hatte. Aber bei der Leichtathletik drängt sich in diesen Tagen ein gegenteiliger Eindruck auf. Als setze jetzt der Kater nach der Party ein, nach Bolts Spaßkarriere, die vermutlich 2017 bei der WM in London enden wird. Wenn Bolt in Rio nicht auftrat, war das Stadion selten zu mehr als einem Drittel gefüllt.
"Stell' dir vor, Bob Marley säße hier im Raum"
Was freilich auch der Tatsache geschuldet war, dass der Sport in Brasilien nicht tief wurzelt, dass das Stadion weit vom olympischen Zentrum entfernt ist und viele Einheimische ihr Monatsgehalt hätten aufwenden müssen, um einem Abend beizuwohnen. Was bleibt also, knapp ein Jahrzehnt, nachdem sich die kriselnde Leichtathletik in die Arme dieses frechen, unbeschwerten Jamaikaners warf?
Russlands Leichtathleten waren von Olympia fast geschlossen verbannt, wegen Staatsdopings. Die alte Führung des Weltverbandes IAAF um Lamine Diack ließ positive Dopingproben gegen Geld verschwinden, die neue um Sebastian Coe steuert durch raue Gewässer. Der Anti-Doping-Kampf bietet keine Verlässlichkeit, im Gegenteil. Die detaillierten Berichte über löchrige Kontrollnetze mehren sich, nicht nur in Russlands Sportreich, sondern von Afrika über die Karibik und England bis nach Brasilien, wo offenbar freiwillige Helfer eingesetzt wurden, um Dopingkontrollen zu beschaffen. Athleten wie der Südafrikaner Wayde van Niekerk konnten in Rio nicht Olympiasieger über 400 Meter samt Weltrekord werden, ohne Misstrauen auf sich zu ziehen.
Dass Bolt, vom Jubel umtost, selbst ein Jahrzehnt lang einem Feld voller überführter Dopingtäter davonjoggte, in einem Biotop, in dem die Zweifel an den Hochglanzbildern stärker wuchern denn je - geschenkt. Im Bolt-Theater von Rio gab es wichtigere Angelegenheiten zu erörtern. "Usain", sagte ein Reporter nach den 200 Metern, "stell' dir vor, Bob Marley säße hier im Raum. Er hat das Rennen gesehen und würde jetzt gerne einen Song über dich schreiben. Welchen Titel würdest du dir wünschen?" Bolt überlegte kurz, dann sagte er: "Der Größte aller Zeiten."