Olympia:Auf den letzten Drücker hingepfuscht

Olympics - Previews - Day - 5

Soldaten patrouillieren vor dem olympischen Dorf. Viele Brasilianer sind froh, dass die wahren Zustände in ihrem Land nicht durch schöne Bilder verschleiert werden.

(Foto: David Ramos)

Die Olympischen Spiele rücken näher, der Nörgelpegel in Rio steigt. Ausgerechnet die Deutschen gehen erstaunlich entspannt mit den Mängeln im olympischen Dorf um.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Zunächst eine Anmerkung zum Känguru: Das Tier ist neben Australien auch auf Neuguinea beheimatet. Deshalb darf nicht unerwähnt bleiben, dass aus Kreisen der Olympia-Delegation Papua-Neuguineas (acht Teilnehmer) bislang keinerlei Beschwerden über die Sportlerunterkünfte in Rio de Janeiro eingegangen sind. Jene Geschichte, die in Brasilien zuletzt unter dem Namen "Caso Canguru" (etwa: die Känguru-Affäre) die Titelseiten füllte, bezieht sich also ausschließlich auf den australischen Teil des Känguru-Verbreitungsgebietes.

Am Freitag beginnt es endlich, das große Fest, das merkt man auch daran, dass der Nörgelpegel steigt. Es gehört ja schon zur guten Tradition vor Olympischen Spielen und Fußball-Weltmeisterschaften, dass so lange über unfertige Sportstätten gelästert und gespottet wird, bis in diesen Sportstätten dann der erste Startschuss fällt oder der Ball rollt. Bei aller berechtigter Kritik an solchen Megaevents: Im bisherigen Verlauf der Sportgeschichte ist noch kein Olympiasprinter gegen einen Betonmischer geprallt und noch kein WM-Stürmer auf dem Weg zum Tor in eine Baugrube gefallen.

Auch die Sommerspiele 2016 von Rio werden nach Lage der Dinge in kompletten Stadien und vollständig überdachten Hallen stattfinden. Was nun das olympische Dorf betrifft, das bei näherer Betrachtung eher eine olympische Hochhaussiedlung ist, so räumen die Organisatoren ein, dass noch bis zuletzt "am Feinschliff" gewerkelt wurde. Da an einer offenen Stromleitung, dort an einem verstopften Klo oder einer triefenden Decke. Brasilianische Kleinigkeiten.

Australier sorgen mit sofortigem Auszug für Irrritationen

Die Olympiagastgeber waren, was die Nörgeleien aus aller Welt angeht, auf einiges vorbereitet. Erstens kennen sie das Spiel schon von ihrer Fußball-WM vor zwei Jahren, bei der sie im Nachhinein froh gewesen wären, ihre Mannschaft (Stichwort: 1:7) hätte halb so gut funktioniert wie die sanitären Anlagen ihrer Stadion-Neubauten. Zweitens gibt es am Olympiaort Rio ja tatsächlich einiges zu verbessern. Vorsichtig formuliert.

Dass die australischen Sportler am Tag ihres Einzugs ins olympische Dorf aber gleich wieder auschecken würden, hat dann doch für einige Irritationen auf Gastgeberseite gesorgt. Australiens Delegationschefin Kitty Chiller bezeichnete die Unterkünfte ihres Teams als "unbewohnbar". Rios Bürgermeister Eduardo Paes reagierte darauf mit jenem Satz, der zweifellos in die Geschichte der ersten südamerikanischen Sommerspiele eingehen wird und deshalb noch einmal in seiner vollen Schönheit überliefert werden sollte: "Wir werden dafür sorgen, dass sich die Australier wie zu Hause fühlen - zur Not besorge ich ihnen ein Känguru, das für sie herumhüpft."

Einen bleibenden Eindruck hinterließ auch die australische Replik: "Wir brauchen keine Kängurus, wir brauchen einen Klempner." Nachdem Paes ein 500 Mann starkes Notfall-Handwerker-Kommando organisiert hatte, sind die Australier wieder eingezogen. Der Bürgermeister hat sich bei einer symbolischen Schlüsselübergabe davon überzeugt, dass sie diesmal dableiben. Zum Zeichen der Völkerverständigung wurden Plüschkängurus ausgetauscht. Sicherlich, ein Feueralarm schlug die tapferen Aussies am Wochenende noch mal kurz in die Flucht - trotzdem kann man wohl sagen, dass Rio in Sachen Känguru-Affäre das Gröbste überstanden hat.

Neben den Australiern boykottierten allerdings auch die Weißrussen zwischenzeitlich das Olympiadorf. Das wirft ganz am Rande die Frage auf, was wohl das Nationaltier von Weißrussland sein mag? Der Wisent vielleicht. Paes kann wohl von Glück sagen, dass ihm ein "Caso Bisonte" bislang erspart blieb.

Mit ein bisschen Pech, hätte sich das Ganze sogar zur Zoo-Affäre ausweiten können. Der letzte Feinschliff fehlte auch in den Apartments der US-Amerikaner, der Briten, der Neuseeländer, der Italiener sowie der Argentinier. Explizit zufrieden mit dem "fließenden Wasser" in den Bädern zeigten sich lediglich die Angolaner, die sich andererseits lautstark darüber beklagten, keine Fernseher auf dem Zimmer zu haben. Tatsächlich wurden von den ursprünglich eingeplanten 3600 TV-Geräten (eines pro Zimmer) lediglich 50 installiert (eines pro Gemeinschaftsraum). Brasilien steckt pünktlich zu den Olympischen Spielen in seiner schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Irgendwo musste gespart werden.

Billigstes Baumaterial für 31 Hochhäuser

Gespart haben aber vor allem die beiden privaten Baufirmen Odebrecht und Carvalho Hosken. Sie errichteten die 31 Hochhäuser mit jeweils 17 Stockwerken auf eigene Kosten - die Stadt stellte das Bauland zur Verfügung und übertrug dem Konsortium das Recht, die Wohnblöcke nach den Spielen als Luxusimmobilen mit Olympia-Charme weiterzuverkaufen. Weil die Nachfrage aber krisenbedingt eindeutig unter den hohen Erwartungen liegt, sollen Odebrecht und Carvalho Hosken nach einem Bericht der Zeitung O Globo billigstes Baumaterial verwendet haben. Die Firmen stecken ohnehin in finanziellen Schwierigkeiten, gegen beide wird im Zuge der Operation Lava-Jato ermittelt, der größten Anti-Korruptions-Offensive in der Geschichte des Landes.

Teile der brasilianischen Gesellschaft reagieren deshalb fast dankbar auf die bizarre Känguru-Affäre. Sie haben wenig Interesse daran, dass die verführend schönen Bilder, die diese Spiele ohne Zweifel produzieren werden, den wahren Zustand ihres Landes verschleiern.

Andererseits haben die meckernden Australier, Amerikaner und Weißrussen wohl auch einiges missverstanden, was die örtliche Klempner-Ethik betrifft. In Brasilien gehört die Improvisationskunst nun einmal zur nationalen Identität. Für die unfachmännische Lösung eines handwerklichen Problems gibt es sogar einen Fachausdruck: "A Gambiarra". Stolz ist nicht, wer den besten Akkuschrauber hat, sondern wer es schafft, eine defekte Klimaanlage mit der Gabel zu reparieren. Das olympische Dorf, hingepfuscht auf den letzten Drücker, ist insofern auch ein Gambiarra-Wunderwerk. Genau wie die Last-Minute- U-Bahnlinie zwischen Ipanema und Barra da Tijuca oder die Candelária-Promenade im Zentrum, wo eben noch die Bagger wüteten und ab Sonntag die olympische Fackel leuchten soll.

"Den Brasilianern gefällt es, die Dinge in letzter Sekunde fertigzustellen"

Am Ende wird wohl doch wieder das meiste funktionieren. IOC-Präsident Thomas Bach konnte in Rio jedenfalls ausnahmsweise Sympathiepunkte sammeln, als er lächelnd bemerkte: "Den Brasilianern gefällt es, die Dinge in letzter Sekunde fertigzustellen." Es ist überhaupt eine der erstaunlichen Entwicklungen auf dem Gebiet der Völkerfreundschaft, dass sich ausgerechnet die Deutschen zu den großen Brasilien-Verstehern aufschwingen.

Es begann wohl beim weltberühmten 7:1 vor zwei Jahren, das der DFB-Elf im Gastgeberland vor allem als Akt der Gnade ausgelegt wurde. Es ist den Brasilianern nicht entgangen, dass die späteren Weltmeister in der zweiten Hälfte ihre Offensivbemühungen freiwillig einstellten. Im Sturm der Känguru-Affäre gab der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) nun die folgende Mitteilung heraus: "Appartements für deutsches Team weitgehend fertiggestellt. Letzte Mängel im olympischen Dorf mit viel Eigeninitiative angegangen."

Klar, wo die Deutschen hinkommen, reist traditionell das Werkzeugköfferchen mit. Im Land des ewigen Provisoriums aber wurde dieser fröhliche Heimwerkergeist durchaus mit einiger Bewunderung zu Kenntnis genommen.

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