Olympia: Curling:Miträtseln an den Steinen

Curling ist das Kontrastprogramm bei diesen arg bunten und arg schnellen Winterspielen, weil es das Gefühl des Dabeisein-Dürfens und Mitdenkens vermittelt.

Jürgen Schmieder

Es war ein unglaublicher Spielzug, den Kevin Martin da versuchte. Ein Stein der deutschen Mannschaft lag in guter Position und wurde von drei deutschen und einem kanadischen Stein geschützt. Martin hätte vorsichtig an den Hindernissen vorbeispielen und sich einen Punkt sichern können, doch der Skip des kanadischen Curlingteams versuchte etwas anderes: Er spielte den eigenen Stein an, der rutschte an den deutschen, stieß ihn aus der Gefahrenzone - und weil an der Seite noch zwei kanadische Spielsteine lagen, gab es drei Punkte für Kanada.

Olympia: Curling

Japans Anna Ohmiya visiert einen Stein an.

(Foto: Foto: rtr)

5600 Menschen verfolgten die Partie zwischen Deutschland und Kanada, das Olympic Centre war bisher an jedem Wettkampftag ausverkauft. "Es gibt eine Million aktive Curler in Kanada, das ist ein Breitensport", sagt der deutsche Bundestrainer Oliver Axnik. In Deutschland, wo vor allem die Hallen mit dem aufwendig präpariertem Eis fehlen, betreiben etwa 900 Menschen den Sport. Übertragungen im Fernsehen gibt es selten.

Bei Olympischen Spielen jedoch, da entwickelt sich Curling regelmäßig zum Kultsport. Die Zuschauerzahlen steigen stetig, seit Curling im Jahr 1998 wieder ins Olympische Programm aufgenommen wurde - zuletzt wurde es bei den Spielen 1924 in Chamonix als Vorführwettbewerb gespielt.

Curling ist so etwas wie das Kontrastprogramm bei diesen arg bunten und arg schnellen Winterspielen in Vancouver. Beim Abfahrtsrennen brettern Frauen einen steilen Hügel hinunter und springen am Ende auch noch 60 Meter weit. Da rempeln sich Skicross-Fahrer gegenseitig von der Piste, ein Mann mit wehenden roten Haaren vollführt atemberaubende Drehungen in der Halfpipe.

Und plötzlich sieht man einen Mann, wie er einfach nur auf dem Eis steht und überlegt. Das Bild zeigt die komplizierte Konstellation der Steine, der Zuschauer in der Halle und vor dem Fernseher darf miträtseln - ähnlich dem Schach, wo der Laie auch versucht, den nächsten Zug des Spielers vorherzusehen. Beim Curling fasziniert nicht nur das Können der Spieler und deren taktisches Verständnis, es ist das Gefühl des Dabeisein-Dürfens und des Mitdenkens, das den Zuschauer in der Halle fesselt.

"Die Atmosphäre hier ist genial, wenn Kanada spielt, explodiert die Halle", sagt der deutsche Skip Andy Kapp, den der Lärmpegel im Curling-verrückten Kanada manches Mal sogar nervt. "Es waren schon Eishockey-Spieler hier, um ihr Team anzufeuern. Da kann man sich gar nicht mehr konzentrieren", sagt Kapp.

Die Tradition in dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden schottischen Volkssport kennt eigentlich nur dosierte Anfeuerung und viel Konzentration. Bei Olympia ist aber alles erlaubt. Das deutsche Männer-Team erwischte mit einem Sieg und zwei Niederlagen einen durchwachsenen Start.

Ebenfalls beeindruckt von der stets ausverkauften Halle zeigte sich Corinna Scholz von der deutschen Frauenmannschaft: "Der Zuschauerlärm und die vielen Kameras sind ungewohnt". Die 20-Jährige ließ sich jedoch ebenso wie ihre Teamkolleginnen nicht aus dem Konzept bringen, sie gewannen die ersten beiden Partien.

Die deutschen Frauen spielen heute um 23 Uhr gegen Kanada, die Männer um 18 Uhr gegen Norwegen. Dann darf in der Halle wieder gefiebert werden - vor dem Fernseher weniger. Die öffentlich-rechtlichen haben sich nämliche den schnellen, lauten und bunten Winterspielen verschrieben und zeigen vom Curling meist nur die Höhepunkte oder entscheidenden Steine - obwohl bei 15 Stunden Liveübertragung auch ein bisschen Ruhe angenehm wäre.

Im Video: Die Brüder Linger haben für Österreich die erste Goldmedaille bei den olympischen Winterspielen in Kanada geholt.

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