Süddeutsche Zeitung

IOC in der Kritik:Anstecken für Olympia

  • Trotz Corona-Krise bestand das IOC auf einer Box-Qualifikation in London - nun sind mehrere Personen positiv getestet.
  • In Tokio sind kaum die Spiele verschoben, schon steigen die offiziellen Infektionszahlen rasant. Alles nur Zufall?

Von Thomas Kistner

Am Dienstag machten Thomas Bach und Shinzo Abe eine völlig überraschende Entdeckung: Das Coronavirus stellt eine Gefährdung für die Menschheit dar. "Die Sorge um die Weltgesundheit, das war der Druck", sagte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) als Begründung dafür, warum er die Sommerspiele in Tokio am Ende doch fast schon überfallartig auf 2021 verschoben hat. Gleichzeitig gab Japans Premierminister am verhinderten Veranstalterort bekannt: "Bach hat meinen Vorschlag, die Spiele um ein Jahr zu verschieben, zu hundert Prozent akzeptiert."

Nur zwei Tage zuvor hatte sich das IOC eigentlich noch vier weitere Wochen Bedenkzeit für eine Entscheidung ausbedungen. Was ist also passiert? Bei einer Telefonkonferenz mit internationalen Medien am Mittwoch versuchte Bach, das jähe Umdenken seines Ringe-Konzerns als umsichtige Reaktion auf "neue, alarmierende Meldungen" der Weltgesundheitsbehörde WHO zu verkaufen. Mit dieser habe man seit Monaten in engstem Kontakt gestanden, am Montagmorgen nun seien dem IOC "dramatische, dynamische Entwicklungen" angezeigt worden. Dabei verwies er explizit auf steigende Fallzahlen in Afrika.

Dramatische, dynamische Entwicklungen: Die gibt es tatsächlich. Am Tag, nachdem die Spiele auf 2021 verschoben worden sind, stieg die Kurve der Corona-Fallzahlen in Tokio rasant an. Und das IOC wurde am Tag danach erstmals offiziell beschuldigt, durch seine sture Verzögerungshaltung und die damit verbundenen Fingerzeige an den Sport und die Athleten, doch einfach weiter den Vorbereitungskurs Richtung Tokio zu halten, selber an der Verbreitung des Virus beteiligt zu sein.

Der Sport steht still, geboxt wurde aber weiter

Diesen Vorwurf erhebt der türkische Boxverband gegen das IOC - nachdem sich zwei Boxer und deren Trainer offenbar beim olympischen Qualifikationsturnier in London mit dem Coronavirus infiziert haben. Dieses auszurichten, "war unverantwortlich, als Folge davon sind jetzt leider drei aus unserem Team positiv getestet worden", sagte Verbandschef Eyüp Gözgec dem britischen Guardian.

Am vorvergangenen Wochenende - da hatte die Pandemie den globalen Sport längst größtenteils lahmgelegt - hatten streng nach Plan die Olympia-Ausscheidungskämpfe der europäischen Boxer in London begonnen: mit rund 350 Athleten aus mehr als 40 Nationen. Wegen der Gesundheitsbedenken wurden zunächst die Zuschauer ausgeschlossen, nach drei Wettkampftagen wurde das Turnier komplett abgebrochen. Zuständig für diese Austragung war die sogenannte Boxing Taskforce (BTF) des IOC: Sie hatte die Führungsaufgaben übernommen, nachdem der Weltverband Aiba Mitte 2019 wegen Korruption suspendiert worden war.

Die ganze Welt, sagte Gözgec, der auch Vizepräsident des europäischen Boxverbandes ist, sei längst mit harten Maßnahmen gegen das Virus vorgegangen - insofern sei er "verblüfft, dass eine IOC-Taskforce und die britische Regierung den Turnierstart erlaubt haben, obwohl viele von uns Bedenken hatten". Auch habe es weder am Austragungsort Copper Box noch in dem Athletenhotel ausreichende medizinische Vorkehrungen gegeben. Dem IOC kündigte er eine Beschwerde an, wissen will er überdies von der BTF, was nun mit den Vorauszahlungen der Verbände für die 15-tägige Veranstaltung passieren werde. Wie die Türken wartet auch der deutsche DBV auf die Rückzahlung von rund 40 000 Euro von der IOC-Einheit, für die Buchung letztlich ungenutzter Zimmer.

Das IOC bedauerte die Infektionsfälle - und räumte auf SZ-Anfrage sogar weitere Fälle ein. Das Nationale Olympische Komitee Kroatiens hat das BTF über drei Ansteckungsfälle informiert: einen Boxer und zwei Trainer. Zugleich wies das IOC alle Beschuldigungen von sich: Die Taskforce sei sich "keiner Verbindung zwischen dem Wettkampf und der Infektion bewusst". Schließlich hätten sich viele Teilnehmer vor Beginn des Qualifikationsturniers "Boxing Road to Tokyo" in selbstorganisierten Trainingslagen aufgehalten: in Italien, England oder in der Heimat. Auch seien ja alle "vor einiger Zeit nach Hause zurückgekehrt, sodass es nicht möglich ist, die Quelle der Infektion zu kennen".

Überhaupt: Liegt die Verantwortung da nicht bei England? "Die BTF stellt fest, dass zum Zeitpunkt des Qualifikationsturniers in London viele Sport- und andere Veranstaltungen in Großbritannien stattfanden, weil es keine staatlichen Beschränkungen oder Ratschläge für öffentliche Veranstaltungen gab." Na bitte: Keine Ratschläge. Kann man da einen Nahkampfwettbewerb, in dem die Tröpfchen nur so sprühen, einfach absagen? Das IOC lässt weiter wissen, BTF und lokales Organisationskomitee hätten "vor, während und in der Nachbereitung des Events Vorsichtsmaßnahmen getroffen", auch sei es dann ja doch abgeblasen worden. Im Übrigen sei eines glasklar: "Die Sicherung des Wohlergehens der Athleten, Offiziellen und aller anderen Teilnehmer hatte für die BTF immer oberste Priorität."

In der Präfektur Tokio schießen die Fallzahlen nach oben

Doch der Eindruck, dass vor allem das Wohlergehen der Spieleplanungen im Vordergrund stand, drängt sich auch in Japan auf: Am Tag, nachdem die Spiele verschoben wurden, schossen in der Präfektur Tokio die Fallzahlen steil nach oben. Wurden am Montag 16 und Dienstag 17 Neuinfektionen vermeldet, waren es am Mittwoch 41: Rekord. Für Donnerstag wurden 47 Fälle erwartet, Premier Abe berief eine Taskforce ein. Gesundheitsexperten rechnen laut Japan Times mit der baldigen Verkündigung des nationalen Notstandes, Gouverneurin Yuriko Koike rät den Menschen, am Wochenende zu Hause zu bleiben.

Auch das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, zumal vor dem Hintergrund, dass Bach noch am Mittwoch erklärt hatte, der Fokus des IOC sei von der Situation in Japan, wo man Vertrauen gefasst habe, dass "die Maßnahmen griffen" und sich bald Besserung einstellen würde, auf die Bedrohungslage in der Welt ausgeweitet worden. Spätestens jetzt wären die sturen Spielebetreiber auch von der Entwicklung in Japan überrollt worden.

Stattdessen konnte sich Thomas Bach am Dienstag vor die Fernsehkameras stellen und, mechanisch mit den Armen wippend, humanitäre Vernunft predigen: "Es geht hier um Menschenleben, dahinter haben Olympische Spiele zurückzustehen."

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Quelle:
SZ vom 27.03.2020/tbr
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