Tischtennisspieler Ovtcharov:Das traurige Tagebuch eines Sportlers

Olympics - Previews - Day -3

Olympia fest im Blick haben? Das ist derzeit schwierig, auch für Tischtennis-Profi Dimitrij Ovtcharov – hier 2016 bei den Spielen in Rio.

(Foto: Lars Baron/Getty Images)
  • Dimitrij Ovtcharov muss wie so viele Athleten damit klarkommen, zu trainieren und dabei nicht zu wissen, ob Olympia überhaupt stattfindet.
  • Der Tischtennisprofi tut das in einer Doppelgarage in Springe, im Haus seiner Eltern.

Von Ulrich Hartmann

Der olympische Traum versteckt sich dieser Tage in den hintersten Winkeln, sogar in einer Doppelgarage im Städtchen Springe südwestlich von Hannover. Tischtennisprofi Dimitrij Ovtcharov trainiert im Haus seiner Eltern jeden Tag für einen Wettkampf, von dem er nicht weiß, ob er stattfindet. Er joggt durch die Nachbarschaft, macht Liegestütze und Hantelübungen und schlägt seinem Vater Michail in der zur Sporthalle umfunktionierten Garage die Bälle um die Ohren.

Vier Monate vor Olympia sollte der 31-Jährige eigentlich in Düsseldorf im Deutschen Tischtennis-Zentrum vom Bundestrainer Jörg Roßkopf unter professionellen Bedingungen auf den Höhepunkt des olympischen Zyklus vorbereitet werden. Aber weil das DTTZ geschlossen ist, übt er mit einem 59 Jahre alten, vormaligen sowjetischen Nationalspieler dort, wo früher Autos geparkt wurden. "Es ist extrem hart, sechs Stunden täglich zu trainieren, wenn man nicht mal weiß, wann man das nächste Mal spielt", sagt Ovtcharov. "Für mich als Sportler wäre es wichtig, ein Ziel zu sehen, auf das ich hinarbeite - aber wenn ich mir vorstelle, ich spiele das nächste Mal vielleicht erst wieder im September, dann ist das nicht einfach zu händeln."

Und es ist ja nicht nur das. Ovtcharov wohnt in diesen Tagen im Haus seiner Eltern mit seiner Frau Jenny und Tochter Emma, 3. Normalerweise ist er das ganze Jahr unterwegs, um Tischtennis zu spielen, aber nun, da das Coronavirus die Welt lahmlegt und er plötzlich unerwartet Zeit hätte, mit der Familie schöne Dinge zu unternehmen - da geht nicht einmal das. Von der Wahlheimat Düsseldorf aus, wo die Ovtcharovs unweit des Tischtennis-Zentrums leben, haben sie kürzlich noch Ausflüge in die Niederlande gemacht oder in den Wildpark im grünen Stadtteil Grafenberg, "aber das", sagt Ovtcharov bedrückt, "geht jetzt leider auch nicht mehr".

Aus seinem Exil in Springe hat er der SZ 15 Audiodateien mit 9,5 Megabyte gemailt. Es ist das traurige Tagebuch eines Sportlers in seiner Blüte, der auch nicht weiß, ob er je wieder für seinen russischen Klub Fakel Orenburg spielen kann und der sich Sorgen um seine Familie macht, besonders um die Eltern und Schwiegereltern. "Das sind verdammt harte Zeiten", sagt er seufzend in sein Smartphone.

"Je mehr man sich mit dem Virus beschäftigt, desto mehr Sorgen und Angst kriegt man"

Normalerweise sitzt Ovtcharov zwei Mal pro Woche in einem Flugzeug. Seit drei Wochen hat er in keinem Flugzeug mehr gesessen, "und ich sehe mich auch in den nächsten Monaten in keinem Flugzeug", sagt er. Zuletzt hat er bei den German Open in Magdeburg gespielt, beim Europe Top 16 in Montreux und bei den Ungarn Open in Budapest. Mitte März hätte er noch ein Ligaspiel in Orenburg mitmachen sollen, aber da durfte er schon nicht mehr nach Russland einreisen. Mittlerweile ist auch der Spielbetrieb in der russischen Liga unterbrochen. Ovtcharov macht sich große Sorgen. Wenn nirgendwo Turniere gespielt werden, ist der Klub seine letzte Bastion. "Die Situation mit Orenburg ist sehr schwierig", sagt er, "Orenburg ist mein Hauptarbeitgeber, meine absolute Haupteinnahmequelle; die Sorge, dass der Verein darunter leidet und dass es Konsequenzen hat, ist da."

Und so trainiert der in Kiew geborene Ovtcharov, der als kleines Kind mit seinen Eltern nach Deutschland kam, zum ersten Mal in seiner Karriere ohne konkretes Ziel, konsumiert die Medien und macht sich Gedanken. "Je mehr man sich mit dem Virus beschäftigt, desto mehr Sorgen und Angst kriegt man", sagt er und will doch daran glauben, dass sich die Lage in ein paar Wochen vielleicht wieder aussichtsreicher darstellt. "Ich hoffe, dass die Maßnahmen, die die Regierungen treffen, Früchte tragen, und dass wir in zwei Monaten eine deutlich bessere Situation haben." Wenn er selbst mal einkaufen geht, trägt er stets einen Mundschutz und hat Desinfektionsmittel dabei. "In Asien, wo ich oft bin, war das schon vor der Coronakrise gang und gäbe."

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Zwei Monate - das ist Ovtcharovs zeitlicher Hoffnungskorridor. "Eine Verlegung der Olympischen Spiele stelle ich mir schwierig vor", sagt er, "deshalb kann ich auch nachvollziehen, dass sich das Internationale Olympische Komitee eine Frist von vier Wochen gesetzt hat, um eine finale Entscheidung zu treffen - das finde ich super; dann wissen die Sportler, woran sie sind."

Aus Ovtcharov spricht der Athlet, für den Olympia alles bedeutet, der nicht will, dass es abgesagt wird, wie kein Kind will, dass Weihnachten ausfällt. Und so denkt er auch darüber nach, was es für seine Medaillenhoffnung bedeuten würde, wenn Olympia doch stattfindet. "Die Vorbereitung ist momentan bei weitem nicht optimal; ich habe gehört, dass die Asiaten - Japaner, Koreaner und Chinesen - zumindest professionell trainieren, auch wenn Wettkämpfe natürlich für alle abgesagt sind. Ich hoffe, dass unsere Hallen auch bald wieder aufmachen und wir dann alle zumindest die gleichen Bedingungen haben, unabhängig davon, ob Olympia noch diesen Sommer oder erst zu einem späteren Zeitpunkt stattfindet."

Ovtcharov, der 2012 in London als zweiter deutscher Tischtennisspieler nach Jörg Roßkopf (1996, Atlanta) Bronze im Einzel gewonnen hatte, hätte nie für möglich gehalten, dass er vor seinen vierten Olympischen Spielen so viel Zeit mit seiner Tochter im Garten verbringt, dass sie Uno spielen und herumtoben. Für den Leistungssportler Ovtchatov ist das schwierig - für den Menschen hingegen ist es sogar ein Gewinn.

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