Hürdenläuferin Cindy Roleder:"Viele haben gesagt: Oh Gott, so kurz vor Olympia macht sie das"

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Cindy Roleder: 2016 mit EM-Gold über 100 Meter Hürden (Foto: Getty Images for IAAF)

Wann ist im Leistungssport der richtige Zeitpunkt für ein Kind? Hürdensprinterin Cindy Roleder nutzte die Olympia-Verschiebung für die Familienplanung - in Tokio will sie trotzdem starten.

Von Saskia Aleythe

Der Stepper ist jetzt der neue Freund von Cindy Roleder, und er soll es möglichst lange bleiben. Normalerweise wäre sie im Juli in Tokio um eine Olympische Medaille im Hürdensprint gelaufen, hätte im Training vorher zahllose Sprünge und Tempoläufe absolviert. Aber dann kam Corona über die Welt. Und Cindy Roleder wurde nervös. Im März wurde die Olympia-Absage publik, später die Verschiebung der Spiele auf 2021. "Für mich ist damals eine Welt zusammengebrochen", sagt sie. Aber nicht wegen der vorerst verpassten Chance auf Edelmetall. "Ich dachte mir: Jetzt muss ich noch ein Jahr warten, bis ich es mit dem Kinderkriegen angehe." Warten müssen? Warum eigentlich?

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Der Stepper ist jetzt ihr neuer Freund geworden, mit ihm kann sie noch Sport treiben in der Schwangerschaft, denn der Entschluss fiel recht schnell: Statt mit Corona und all den ausgefallenen Wettbewerben zu hadern, entschieden sich die 31-Jährige und ihr Mann, die Familienplanung vorzuziehen. Und trotzdem das Ziel Olympia anzugehen: Nur sieben Monate nach der Geburt will die Europameisterin von 2016 in Tokio über die 100 Meter Hürden an den Start gehen. Ein ambitioniertes Vorhaben in einer Sportwelt, in der oft noch der Gedanke vorherrscht: Wer Kinder bekommen möchte, macht das nach dem Karriereende, aber nicht mitten im olympischen Zyklus. "Für mich war das nie eine Frage, ob ich mit dem Sport aufhöre, wenn ich ein Kind bekomme," sagt Roleder.

Was möglich ist und was nicht, bestimmt nicht zuletzt auch der Glaube an die eigenen Fähigkeiten, so hält es die Hürdenläuferin auch mit ihrer neuer Lebensgestaltung. "Viele haben gesagt: Oh Gott, so kurz vor Olympia macht sie das", sagt Roleder. Aber der Wunsch nach dem eigenen Kind wog schwerer als die Zweifel, vielleicht nicht wieder rechtzeitig fit zu werden. Niemand weiß, wann das Virus eingedämmt oder ein wirksamer Impfstoff eingesetzt werden kann, ob im kommenden Jahr tatsächlich schon wieder um olympische Medaillen gekämpft wird. Wenn man so will, hat diese Ungewissheit ihren eigenen Mut befördert, sich selbst ins Unbekannte zu begeben. Ein Unbekanntes ohne Zurück, das Schönste zugleich.

Wer als Leistungssportler plötzlich aufhört, schadet seinem Körper

Schon 2012 war Roleder bei Olympia dabei, sie wurde Fünfte bei den Spielen 2016 in Rio und Vize-Weltmeisterin 2015 in Peking, von damals datiert ihre persönliche Bestzeit von 12, 59 Sekunden. Die letzte große Freiluft-Medaille gab es 2018 mit EM-Bronze in Berlin. Eine beständige Karriere auf hohem Niveau, daran soll sich im Idealfall auch mit Kind nichts ändern. "Natürlich will ich nicht nach Tokio reisen, um im Vorlauf rauszufliegen. Ich finde, man sollte sich hohe Ziele setzen", sagt die Athletin vom SV Halle. "Keiner hätte gedacht, dass ich mal in ein Olympia-Finale komme und dann stand ich da."

Also trainiert sie auch in der Schwangerschaft in Abstimmung mit den Ärzten so gut wie möglich weiter. "Ich kann als Leistungssportlerin auch nicht einfach aufhören, da bekommt der Körper Probleme." Die bis zu elf Sporteinheiten in der Woche à 2,5 Stunden sind jetzt auf vier bis fünf Einheiten zusammengeschrumpft, länger als 1,5 Stunden am Stück wird nicht mehr trainiert. Es gibt keine Bücher darüber, wie man als Schwangere am besten trainiert, jetzt kommt es darauf an, besser als je zuvor auf den eigenen Körper zu hören. "Lange Tempoläufe habe ich sofort rausgenommen", sagt Roleder, "ich habe gemerkt, das schlaucht mich richtig." Auch Springen wurde mit höherem Gewicht bald zur Belastung. Ansonsten hilft die Sportuhr: "Ich achte darauf, dass der Puls nicht über 160 geht, das kann das Kind noch nicht so gut regulieren."

Die Aufmerksamkeit für erfolgreiche Mütter im Sport hat in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, sie haben ihren Sport teilweise schon in die Moderne gehievt. Bei den diesjährigen US Open traten neun Tennis-Spielerinnen mit Kindern an. Viktoria Asarenka - Mutter eines dreijährigen Jungen - schaffte es bis ins Finale. Lange wurden schwangere Athletinnen nach den Regularien so behandelt, als wären sie verletzt, sie mussten einen tiefen Fall in der Weltrangliste hinnehmen, was ein Comeback umso beschwerlicher machte. Der Frauen-Tennisverband WTA hat diese Regel Ende 2018 geändert, ihr Weltranglistenplatz wird eingefroren bis zur Rückkehr.

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Und auch in Roleders Sport gibt es Beispiele, die ihr Mut machen: Hürdenläuferin Nia Ali aus den USA wurde im vergangenen Jahr Weltmeisterin in Doha, die Sieger-Interviews gab sie mit ihrer 13 Monate alten Tochter auf dem Arm, es ist das zweite Kind der Amerikanerin. "Ich möchte auch ein Vorbild für andere sein", sagt Roleder, "und zeigen: Es geht, man kann als Mama weiter Leistungssport machen."

Die Begleitumstände, wie sich Kind und Sportkarriere vereinbaren lassen, sind dabei nicht überall die gleichen. In der Leichtathletik meldeten sich im Mai 2019 mehrere hochdekorierte US-Sportlerinnen zu Wort, die vor allem den Umgang der Sponsoren mit Schwangeren anklagten. Die erfolgreichste Olympia-Leichtathletin Allyson Felix berichtete darüber, wie Nike ihre Bezüge um 70 Prozent kürzen wollte, als sie schwanger wurde. Es war eine große Geschichte, die Wirkung zeigte: Der Sportartikelhersteller änderte seine Vertragsbedingungen, schwangere Sportlerinnen müssen nun für 18 Monate keine finanziellen Einbußen befürchten.

Auch Roleder ist Nike-Athletin, sie fühlt sich durch ihre Ausbildung und Förderung von der Bundespolizei aber ohnehin gut abgesichert. Der Zeitpunkt ist in gewisser Hinsicht auch nicht der schlechteste zum Kinderkriegen: Durch die vielen ausgefallenen Wettbewerbe in diesem Jahr sind die Einnahmen für alle Sportler gering. Auch die Sponsoren sind Roleder bisher treu geblieben. "Das ist auch ein gesellschaftliches Zeichen, zu zeigen: Wir glauben auch als Unternehmen daran, dass die Sportlerin erfolgreich wiederkommt, auch mit Kind", sagt sie.

Roleder weiß, dass sie als Athletin bessergestellt ist als manch andere Frau, die sich für ein Kind entscheidet. Ihr Training findet vormittags statt, "es gibt sehr wenige Menschen, die ihr Kind schon um 13 Uhr aus der Kita abholen können." Bei Trainingslagern und Wettkämpfen ist ihr die Unterstützung ihres Mannes sicher. Dass sich die Prioritäten verschieben werden, ist ihr klar, Nummer eins ist dann "natürlich die Familie".

"Man kann eine Sache erfolgreich machen, ohne alles andere aufzugeben"

Ohnehin ist Roleder schon länger jemand, der auch das Leben neben dem Sport genießen kann. Wo früher viel Verbissenheit war, steht jetzt die Erkenntnis: "Man kann eine Sache erfolgreich machen, ohne alles andere aufzugeben." Disziplin und Aufopferung werden im Leistungssport oft als Tugenden gepredigt, aber wer langfristig erfolgreich sein will, braucht ein gutes Mittelmaß. "Dass du alles auf den Sport ausrichtest, mit strikter Ernährungsweise und um zehn ins Bett gehen, kannst du mal zwei oder drei Jahre durchhalten", aber eben nicht auf Dauer.

Wenn Roleder also im nächsten Jahr nach dem Training nach Hause kommt, wird sie gar keine Zeit mehr haben, über alles noch stundenlang zu grübeln, und: "Egal wie schnell du läufst, egal wie du trainiert hast: Da ist jemand, der sich auf dich freut." Deswegen geht sie das Ziel Olympia in Tokio zwar motiviert, aber auch mit einer gewissen Gelassenheit an. Die Norm hat sie schon erfüllt, weil sie für die später verschobenen Spiele qualifiziert gewesen wäre, sie ist Elfte in der Weltrangliste.

Ende Dezember ist der errechnete Geburtstermin, sollte sich das Kind danach gut entwickeln und sich alle aneinander gewöhnen, möchte Roleder bald wieder mit Spazierengehen anfangen, Radfahren und - natürlich - rauf auf den Stepper. Im April soll es als Familie ins Trainingslager gehen. "Über so eine Hürde bin ich mein Leben lang gerannt, das werde ich nicht verlernen", sagt sie, "ich war auch mal ein halbes Jahr verletzt und bin danach auch wieder gut Hürden gelaufen."

Sechs Medaillen von internationalen Meisterschaften hängen schon zu Hause an den Wänden. Es ist das Fundament, aus dem die Athletin Kraft und Selbstbewusstsein für ihre Ziele zieht. Sollte sie trotz allem nicht rechtzeitig wieder fit werden, "dann ist es auch okay", sagt sie, "dann habe ich trotzdem eine Mega-Karriere hingelegt." Aber, und das darf man ruhig als Statement verstehen: "Ich glaube, das ist jetzt noch nicht das Ende."

© SZ vom 06.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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