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Olympia:Christoph Harting: Erst Gold, dann Schweigen, dann Ärger

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Es ist der Höhepunkt einer Karriere, die lange im Schatten des Bruders verlief. Nachdem Christoph Harting mit dem Diskus Gold gewinnt, sorgt er aber für Irritationen.

Von Johannes Knuth, Rio de Janeiro

Piotr Malachowski griff ein letztes Mal zu seinem Diskus, einmal durfte er noch in den Ring steigen. Aber man spürte, dass der Glaube gerade aus ihm entwich, wie bei einem Luftballon, in den jemand ein Loch gepikst hat.

Malachowski schüttelte den Kopf. Immer diese Hartings.

Dieses olympische Diskusfinale von Rio de Janeiro brauchte ein wenig, ehe es Fahrt aufnahm. Aber dann. Dann krachte es, wie wenn sich Bläser, Trommeln und Streicher beim Schlussakkord einer Sinfonie vereinen. Piotr Malachowski, der Favorit aus Polen, führte vor dem letzten Durchgang, vor den Deutschen Christoph Harting und Daniel Jasinski. Der Este Martin Kupper eröffnete das Finale, 66,58 Meter, er klemmte sich damit vor Harting und Jasinski auf Platz zwei. Jasinski konterte prompt, 67,05 Meter, jetzt war er wieder Zweiter. Harting, den es auf den vierten Rang zurückgeweht hatte, warf noch mal alles in seinen letzten Versuch. 68,37 Meter, Platz eins mit persönlicher Bestleistung. Ein Wirkungstreffer, von dem Malachowski sich nicht mehr erholte.

Der Pole hatte in den vergangenen Jahren viele Duelle mit Robert Harting ausgefochten, er hatte oft verloren, und jetzt, nachdem der alte Harting im Vorkampf gestrandet war, schnappte ihm der jüngere den Sieg weg.

Lauter kalte und heiße Momente

Christoph Harting streckte derweil die Arme aus, wie die Christusstatue auf dem Corcovado. Er verbeugte sich in alle Richtungen, dann tauchte er auf die Ehrenrunde ein, nach einem Finale voller Wendungen. Es sollten nicht die letzten bleiben an diesem Samstagmittag.

Die deutschen Leichtathleten sind an diesen ersten beiden Olympiatagen durch diverse Gemütszustände gewatet, kalte wie heiße. Christina Schwanitz, diensthabende Weltmeisterin, beendete das Kugelstoßen als Sechste. Julian Reus, der deutsche Rekordhalter, blieb über 100 Meter im Vorlauf hängen, mit 10,34 Sekunden. Diskus-Olympiasieger Robert Harting war ebenfalls in der Qualifikation ausgeschieden, er hatte zuvor einen Lichtschalter mit dem Fuß bedient und sich einen Hexenschuss zugezogen.

Anstatt an seinen Olympiasieg von London einen zweiten zu reihen, nach einer langen Kreuzband-Verletzung, fiel ihm ein Platz in der Galerie der skurrilsten Sportlerverletzungen zu. Dass dann der jüngere Bruder sowie Daniel Jasinski im Finale auf den Plätzen auf eins und drei eintreffen würden, das war im Vorfeld kein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Aber ernsthaft gerechnet hatten damit auch nicht viele.

Christoph Harting saß rund eine Stunde später im Bauch des Stadions. Er redete über seinen Wettkampf, in dem er eine Geste an die nächste geknüpft hatte. "Ich liebe die Bühne im Stadion", sagte er. Harting hatte sogar auf dem Podest mitgepfiffen und herumgewackelt, als sie die Nationalhymne spielten. "Schwer, dazu zu tanzen", sagte er. Aber jetzt, befand Harting, fühle er sich "hundeelend".

Harting hatte die ganze Saison über keine Interviews gegeben, er wolle sich auf sich konzentrieren, hatte er ausgerichtet. Außerdem habe er mit Medien schlechte Erfahrungen gemacht. In Rio ignorierte er die TV-Mikrofone, bei manchen Anhängern brachte das viel Ärger ein. Die obligatorische Pressekonferenz machte er widerwillig mit. "Ich finde, dass man nach einem Olympiasieg zuallererst die Möglichkeit haben sollte, mit den Personen zu feiern, die einem am nächsten stehen", sagte er, mit der Familie also.

Und überhaupt sei er kein Medienmensch, eher introvertiert. Das passte zwar irgendwie nicht ganz zu seinem Auftritt im Stadion, abert gut. "Ich muss vor keinem von ihnen versuchen, besonders gut dazustehen", sagte er. Anders als extrovertierte Menschen, fand Harting, "die achten darauf, wie sie von außen wahrgenommen werden und repräsentieren sich dementsprechend".

Das Bundesinnenministerium gratuliert Bruder Robert

Es war klar, wen er meinte: seinen Bruder, in dessen Schatten er lange gestanden hat. Manche hielten die beiden auch nach Christophs Sieg nicht auseinander. Das deutsche Innenministerium etwa, das per Twitter zunächst "beste Glückwünsche" an Robert schickte. Ein ausländischer Reporter redete Christoph Harting während der Presserunde mit "Mr. Robert Harting" an. Christoph Harting lachte bitter. Die Pressekonferenz war dann recht bald vorbei.

Die Biografien der beiden Brüder verliefen lange versetzt. Als Christoph auf die Grundschule wechselte, zog Robert in die Sportschule, als Christoph in die Sportschule kam, machte Robert sich nach Berlin auf. 2007 zog Christoph hinterher, Berufswunsch Diskuswerfer. "Da haben wir im Grunde angefangen, uns kennenzulernen", hat er im vergangenen Jahr erzählt.

Heute prallt man auf zwei völlig verschiedene Charaktere. Robert ist temperamentvoll, impulsiv, ausgestattet mit der Gabe, seine Kraft in den wichtigsten Wurf des Wettkampfs zu legen. Christoph ist ein ruhiger, "absolut geduldiger Mensch", sagt er selbst. Robert war lange kräftiger. Christoph drahtiger, seine Muskulatur ist explosiver.

Robert beklagt öffentlich, wenn ihm etwas nicht passt. Vor Olympia bezeichnete er IOC-Präsident Thomas Bach als "Teil des Doping-Systems", weil der die staatsdopenden Russen nicht kollektiv ausgesperrt hatte. "Ob ich 63 Meter werfe oder 68, ich komme nach Hause, da spielt das keine Rolle. Ihr glaubt gar nicht, wie schön das ist", sagte Christoph einmal. "Was der eine mag und tut, ist für den anderen ein No-Go", sagte Torsten Lönnfors nach dem Wettkampf, er betreute die beiden Hartings seit rund drei Jahren. "Es gibt nun mal unterschiedliche Typen."

"Ist so", sagt Lönnfors.

Es gibt vermutlich keinen besseren Betreuer für dieses komplizierte Familienprojekt, auch Robert Hartings Freundin Julia gehört der Trainingsgruppe an. Lönnfors betreut jeden individuell, er schraubt mal hier an der Technik, mal dort. Robert ist nirgendwo der Beste, er springt nicht am höchsten oder ist am schnellsten im Ring, aber er ist überall vorne mit dabei. Wie ein Zehnkämpfer, sagt Lönnfors: "Wenn ich in jeder Disziplin Zweiter oder Dritter werde, bin ich am Ende Olympiasieger, weil ich alles sehr gut kann."

Der junge Harting hat sich ein größere Wettkampfhärte zugelegt

Bei Christoph hat er wiederum vor drei Jahren ein neues System aufgespielt, er springt um, statt im Stütz zu verharren, das kommt seiner Muskulatur entgegen. "Das ist stabil geworden, das macht ihn auch selbstsicher", hat Lönnfors beobachtet. Der jüngere Harting, das konnte man in dieser Saison immer wieder beobachten, eignet sich langsam die Wettkampfhärte des Älteren an. In Rio wären wohl zwei Zehnkämpfer aufeinandergeprallt, hätte Harting vor dem Wettkampf ordnungsgemäß den Lichtschalter bedient. "Hey kleiner Bruder, der Generationswechsel ist eingeleitet", teilte Robert am Samstag per Facebook mit.

So schnell wird sich der Ältere freilich nicht geschlagen geben. Er wird in jedem Fall bis zur EM 2018 weitermachen, nach dem Heimspiel in Berlin wollte er eigentlich abtreten. Aber Robert Harting spielte am Wochenende schon wieder mit dem Gedanken, vielleicht doch noch vier Jahre dranzuhängen. Lönnfors glaubt, dass das Duell der Brüder noch eine "ganz harte Geschichte" werden könnte". Der Austausch unter den Brüdern beschränkt sich mittlerweile offenbar aufs Nötigste. Man werde sich noch einmal zusammensetzen, "damit es nicht im Training schon ständig Konfrontationen gibt". Im Wettkampf sei das freilich anderes, sagte Lönnfors, da dürfe es schon mal krachen.

Piotr Malachowski wird das nicht gerne vernommen haben: "Jeder hat so einen Harting in seinem Leben", an dem er sich abarbeite, sagte er am Samstag. "Ich habe zwei."

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