Süddeutsche Zeitung

40 Jahre Olympia-Boykott:Aus Trotz zum Weltrekord

  • Am 12. April 1980 beschlossen die USA, Olympia zu boykottieren, die BRD schloss sich an.
  • Den deutschen Zehnkämpfer Guido Kratschmer traf das besonders hart, da er sich gerade in starker Form befand.
  • Zu den Spielen fuhr er letztlich trotzdem - in anderer Rolle.

Von Saskia Aleythe

In Moskau war Guido Kratschmer dann doch. Unten im Luschniki-Stadion kämpften die Konkurrenten um die Goldmedaille im Zehnkampf, oben auf der Tribüne saß der Mann, der sie eigentlich für sich erobern wollte. Sein Lebensziel Olympiasieg war da schon seit einigen Monaten ausgelöscht gewesen, der Wegweiser war der 12. April 1980: Die US-Amerikaner entschieden, die Olympischen Spiele in Moskau zu boykottieren. Und wenige Wochen später zog die Bundesrepublik Deutschland nach.

Jeden Sportler habe das damals getroffen, sagt Kratschmer heute, doch er selber hatte schon eines der gravierenderen Schicksale zu durchleben, immer verbunden mit diesem Boykott: 1980 sollte eigentlich sein Jahr werden, 27 Jahre war Kratschmer alt, auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit. Vier Jahre zuvor hatte er Silber errungen in Montreal, nun war er bereit für den Olympiasieg. "Mein Lebensziel ist mit dem Boykott dann weggefallen", sagt er. Die Motivation und die Form wie damals erreichte er später nie wieder. 40 Jahren ist dieser erzwungene Verzicht auf Olympia nun schon her, erst vor 15 Jahren habe es aufgehört, weh zu tun.

Monatelang hatte US-Präsident Jimmy Carter für seine Interessen geworben. Den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 nahm Carter zum Anlass, zum Olympia-Boykott aufzurufen. Der Druck auf das amerikanische Olympia-Komitee wuchs, einen entsprechenden Entschluss zu fassen, am 12. April wurde im Sinne Carters abgestimmt. Die Entwicklungen damals wollte Kratschmer nicht wahrhaben, er vertraute auf die Sportfunktionäre im eigenen Land. "Ich habe gedacht, das nationale Olympische Komitee stimmt ja ab und dann wird es sicher eine Entscheidung für die Athleten sein", sagt er heute. Doch Bundeskanzler Helmut Schmidt machte auch in Reihen der Sportverbände Werbung, sich den USA anzuschließen.

Am 15. Mai entschied der deutsche Sport, die Spiele zu boykottieren. Kratschmer erfuhr davon durchs Autoradio, er war gerade auf dem Weg zum Wettkampf in Götzis. "Da war eine vollkommene Leere, ich war neben mir. Ich habe in Götzis noch den Zehnkampf gemacht, aber ohne große Motivation", sagt er. Er weiß heute noch seine Punktzahl: 8400, trotz innerer Erschütterung. Vier Jahre auf ein Ziel hinzuarbeiten, das einem dann genommen wird, damit mussten alle erst mal klarkommen. Und solche Athleten wie Kratschmer, die gerade zu den Besten ihres Sports gehörten und nicht mehr ihr ganzes Sportlerleben vor sich hatten, die traf es nun mal am härtesten.

"Weltrekord war ja nie in meinem Kopf vorher. Ich wollte Gold bei Olympia"

Nach Götzis ging Kratschmer erst mal mit einem Freund in die Berge, Wandern am Achensee in Österreich, vier Tage lang den Kopf frei kriegen. "Da habe ich mich wieder gefangen. Ich habe mir gesagt: Die andere Möglichkeit, um mich in Szene zu setzen, ist, jetzt den Weltrekord aufzustellen", sagt er. Er wollte doch noch was machen aus seiner Form, sie nicht einfach im Olympia-Vakuum verpuffen lassen. Im Juni stand in Bernhausen der nächste Wettkampf an, Kratschmer hangelte sich von Einzeldisziplin zu Einzeldisziplin und trotzte auch der großen Hitze. "Das war für mich so ein schlimmer Zehnkampf. Ich war immer angespannt, aber trotzdem hat's dann gereicht." Am Ende war er wirklich Weltrekordler, mit 8649 Punkten. "So richtig zufrieden war ich aber nicht", sagt er, "ich hatte mein Ziel erreicht, aber Weltrekord war ja nie in meinem Kopf vorher. Ich wollte Gold bei Olympia."

Nach Moskau gefahren ist er dann also trotzdem, das Nachrichtenmagazin Stern hatte ihn für ein Tagebuch angefragt, das er zusammen mit einem Ghostwriter schrieb. So bekam er immerhin mit, was für Spiele das waren. "Ich habe dadurch gesehen, dass der Boykott gar nichts gebracht hat. Dass es in Moskau gar nicht angekommen ist. Das war das Schlimme für mich", sagt er. Eine Solidaritätswelle wie von den USA erhofft, hatte sich nicht ergeben. 30 Staaten blieben fern, doch große Sportnationen wie Großbritannien und Frankreich starteten trotzdem in Moskau. Der Brite Daley Thompson holte Zehnkampf-Gold, wie auch vier Jahre später in Los Angeles. Kratschmer hatte seine Karriere ursprünglich nach Moskau beenden wollen, machte dann notgedrungen doch noch weiter und wurde in Los Angeles Vierter.

Unerfülltes Karriereende

1988 riss seine Achillessehne kurz vor den Spielen in Seoul, die Karriere endete schließlich, unerfüllt wie er findet. "20, 25 Jahre hat mich das noch beschäftigt", sagt er heute, "wenn ich darauf angesprochen wurde, wurde es immer emotional. Mit den Jahren hat es sich abgebaut. Dass es so lange dauert, hätte ich auch nicht gedacht."

Dem Sport ist er trotzdem treu geblieben, er war auch nach seiner aktiven Zeit als Zuschauer bei Olympischen Spielen und Europameisterschaften dabei; das Interesse ist trotz allem geblieben. Im USC Mainz ist Kratschmer heute Ehrenmitglied und er staunt, wie es Vereinskollege Niklas Kaul schon mit 21 Jahren zum WM-Titel geschafft hat. "Ich denke, Olympische Spiele nächstes Jahr sind besser für ihn als dieses Jahr", sagt Kratschmer, "jetzt kann er mal durchatmen und abschalten", dem Körper eine Pause gönnen - "eine Medaillenchance hat er nächstes Jahr auf jeden Fall".

Den Zehnkampf liebt Guido Kratschmer noch immer. Daran konnte selbst das Trauma Olympia-Boykott nichts ändern.

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