Olympia-Bilanz aus deutscher Sicht:Vorsprung durch Vielfalt

Usain Bolt? Michael Phelps? Roger Federer? Keiner der weltweiten Sporthelden kommt derzeit aus Deutschland. Aber die deutsche Mannschaft feierte in London Erfolge in spannenden Wettkämpfen und verschiedensten Disziplinen. Die Medaillenbilanz ist sogar besser als in Peking - zu den Verlierern zählen dagegen einige Beteiligte, die gar nicht selber schwitzen mussten.

Claudio Catuogno, London

Immer wenn irgendwo Olympische Spiele stattfinden, bauen sich die Deutschen dort ein Stück Heimat nach: das "Deutsche Haus". Es wird Deutsch gesprochen, es läuft deutsches Fernsehen, und abends gibt es deutsche Partys, bei denen man am liebsten unter sich bleibt. Andere Länder haben ihre Sportler in London im Main Press Centre aufs Podium gesetzt, was sie dort sagten, wurde in verschiedene Sprachen übersetzt. Die Deutschen setzten ihre Medaillengewinner immer um neun Uhr morgens ins Deutsche Haus.

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Sie haben ihre Zielvereinbarung erfüllt, immerhin: die deutschen Hockeyspieler, am Samstagabend 2:1-Sieger im Finale gegen die Niederlande.

(Foto: AFP)

Das hatte womöglich mit Piefigkeit zu tun. Richtig ist aber auch, dass die Deutschen in London keine Athleten dabeihatten, die das Publikum auf der ganzen Welt faszinieren. Selbst der Tischtennis-Spieler Timo Boll, die Schwimmerin Britta Steffen, der Turner Fabian Hambüchen sind eher Nischen-Berühmtheiten. Die Deutschen haben keinen Michael Phelps, keinen Usain Bolt, keinen Roger Federer.

Der deutsche Sport schöpft seine Kraft aus der Vielfalt. Das wiederum ist am letzten Olympia-Wochenende noch einmal deutlich geworden im Deutschen Haus. Auf dem Podium saßen da: die Leichtathleten Björn Otto und Raphael Holzdeppe, die Silber und Bronze gewonnen hatten im Stabhochsprung.

Die Hammerwerferin Betty Heidler und die Taekwondo-Kämpferin Helena Fromm, beide mit einer Bronzemedaille dekoriert. Und der Marathonschwimmer Thomas Lurz, der in einem See im Hydepark, den er "Entenklo" getauft hatte, zu Silber gekrault war. Springen, Werfen, Kämpfen, Schwimmen: Die Deutschen hatten in London mit verschiedenen Talenten Erfolg.

"Glänzender Auftritt", "Erwartungen übertroffen" - so lautete dann auch das offizielle Fazit der deutschen Olympia-Mission. Es wurde (im Deutschen Haus) von drei Männern des Deutschen Olympischen Sportbunds (DOSB) gezogen, die aus folkloristischen Gründen in weißen Trainingsanzügen steckten: Präsident Thomas Bach, Generalsekretär Michael Vesper und Leistungssport-Direktor Bernhard Schwank.

Und selbst wenn man es befremdlich finden kann, mit welchem bürokratischen Eifer der Sport seine Erfolge in Medaillen aufwiegt und dabei jene vergisst, die unglückliche Vierte oder zufriedene Zwölfte werden: Dem Tenor war schwerlich zu widersprechen. Der deutsche Sport hat in London ein bemerkenswertes Bild abgegeben.

Er hat seine Sieger nicht nur am Rande des Olympia-Betriebs hervorgebracht. Sondern auch im Diskuswurf, im Beachvolleyball, im Hockey, mit dem Deutschland-Achter. Er hat seine Medaillen in zwölf verschiedenen Disziplinen errungen, eine solche Vielfalt hat nicht einmal der chinesische Staatssport erreicht. Es wurden zwar weniger goldene, insgesamt aber sogar mehr Medaillen gewonnen als vor vier Jahren in Peking. Aber trotzdem hat der deutsche Sport jetzt diese Debatte am Hals, in der es um Scheitern und das Verfehlen von Zielen geht. Das wiederum hat er sich selbst zuzuschreiben.

Es soll noch ein bisschen mehr Geld sein

Bilanz zu ziehen bedeutet ja, ein Ergebnis mit den Erwartungen abzugleichen, die man vor den Spielen hatte. Welche Erwartungen hatte der deutsche Sport? Bei dieser Frage ist zuletzt einiges durcheinandergeraten. Das Ergebnis von Peking 2008 zu wiederholen, hatten die DOSB-Vertreter offiziell verlautbart, wäre angesichts eines immer härteren Wettbewerbs ein großer Erfolg. Gleichzeitig hatten DOSB und Bundesinnenministerium (BMI) mit den einzelnen Fachverbänden jedoch Zielvereinbarungen abgeschlossen, in denen ebenfalls Medaillenzahlen standen: Zwei sollte der Hockeybund anstreben, sechs die Beckenschwimmer und so weiter.

Diese Zahlen sollten geheim bleiben, doch ein Gericht verfügte nun ihre Offenlegung. Und weil sich das BMI ja schlecht über ein Gerichtsurteil hinwegsetzen kann, veröffentlichte es die Zahlen am Freitag, wenige Minuten vor Ablauf der Frist. Wenn man nun all die Vorgaben zusammenzählte, auf die sich der DOSB mit den Verbänden geeinigt hatte, kam man auf eine abenteuerliche Zahl: 86 Medaillen. Davon 28 in Gold.

86 Medaillen? So ein Ergebnis hatte der deutsche Sport zuletzt 1992 in Barcelona erreicht. Damals machten allerdings noch viel weniger Nationen die Siege unter sich aus. Und damals stand das deutsche Team noch unter dem Einfluss des DDR-Sports, dessen Methoden, wie man heute weiß, eher selten den Regeln entsprachen. Das jetzt als Maßstab für London zu nehmen - leiden die deutschen Sportfunktionäre unter Realitätsverlust?

Dem Eindruck sind Bach, Vesper und Schwank entschieden entgegengetreten. "Niemals sind das unsere konkreten Medaillenprognosen gewesen", sagte Vesper. Vielmehr habe man 2008, bei der Analyse von Peking, "Potentiale" identifiziert, "also Sportler oder Teams, die möglicherweise die Chance haben werden, vier Jahre später ganz vorne dabei zu sein". In 86 Wettkämpfen, so soll man die Zahl also verstehen, hat sich der DOSB vor vier Jahren Hoffnung auf eine Medaille gemacht - wohl wissend, dass man im Sport immer nur einen Teil seiner Ziele erreichen kann.

Kann es so falsch sein, sich schriftlich auf ehrgeizige Medaillenziele zu verständigen? Nein, sagte Schwank. "Denn das ist Spitzensport." Doch, konterte kurz darauf allerdings Clemens Prokop: dann nämlich, wenn von diesen fragwürdigen Zielen abhängt, wie viel Geld jeder Verband bekommt. Prokop, der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), setzte sich am Sonntag an die Spitze der Zielvereinbarungs-Kritiker.

Wir können nicht steuern, wie stark die Athleten anderer Länder sind", sagte er. Also seien Medaillen nicht planbar. Also sei eine "Leistungssportförderung, die auch von Faktoren abhängig ist, die vom Fachverband nicht beeinflussbar sind, nicht sinnvoll".

Der DOSB will das Fördergeld allerdings weiterhin auch anhand von Medaillenprognosen vergeben. Und wenn es nach Thomas Bach geht, dann soll es in Zukunft sogar noch ein bisschen mehr Geld sein als bisher - bis zu den Spielen 2016 in Rio de Janeiro wird sich der Wettbewerb ja noch einmal verschärfen. Man habe bei der Politik "einen Mehrbedarf angemeldet", sagte Bach. Die Politik dürfte mit Interesse verfolgen, nach welchen Kriterien der DOSB dieses Geld zu verteilen gedenkt.

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