Olympia:Als die Uhr noch 1,7 Sekunden zeigte

Olympia: Völlig enthemmt: die deutschen Hockeyspieler nach dem 3:2 gegen Neuseeland.

Völlig enthemmt: die deutschen Hockeyspieler nach dem 3:2 gegen Neuseeland.

(Foto: AP)

Deutschlands Hockey-Männer beweisen im Viertelfinale unerschütterliche Glaubenskraft und drehen in den letzten Sekunden das Spiel gegen Neuseeland. Am Ende steht die Zeit still.

Von Volker Kreisl, Rio de Janeiro

Manchmal bleibt im Sport tatsächlich die Zeit stehen. Nicht deshalb, weil zum Beispiel ein Hockey-Schiedsrichter die Uhr anhält. Dann stoppt ja nur die gemessene Spielzeit, die echte Zeit verrinnt dahinter weiter. Am Sonntagabend, im Olympischen Hockey-Zentrum von Rio, stand die Zeit tatsächlich für einen Moment still.

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Es ist, als würde der Herzschlag kurz aussetzen, als hüpfte das Bewusstsein für einen Moment aus seiner Gangschaltung. Der Erste, der auf der Pressetribüne wieder klar sah, war der neuseeländische Reporter, er packte seinen Rucksack, rumpelte hinter der Stuhlreihe durch und floh aus dem Stadion. Unten sammelten sich die deutschen Spieler, nachdem sie zunächst konfus jubelnd und schreiend durch die Gegend gelaufen waren. Und eine halbe Stunde später sagte Stürmer Christopher Rühr: "Ich habe immer noch eine Gänsehaut."

Die Gegner der deutschen Hockeyspieler in diesem Viertelfinale, die All-Blacks aus Neuseeland, waren da aus ihrer apathischen Sitzstarre auf dem Kunstrasen auch wieder aufgestanden. Auch sie grübelten gewiss über den Moment zwischen der drittletzten und der vorletzten Sekunde, und wie es sein konnte, dass Florian Fuchs da noch den Siegtreffer erzielte.

0:2-Rückstand, elf Minuten Restspielzeit, alles schien gelaufen

Neuseeland, Vierter der Gruppe A, war dem Gruppe-B-Sieger über den Großteil dieses Spiels überlegen. Das Team hatte zwar von einer Fehlentscheidung profitiert, als der Schiedsrichter in der 18. Minute eine Fußberührung zum Ball nicht gepfiffen hatte und den Konter weiterlaufen ließ. Doch niemals hätte Hugo Inglis sich so frei im Kreis durchdribbeln und den Ball ins Eck schlenzen dürfen. Es stand 1:0, die Deutschen kamen nicht mehr ins Spiel. Viele Pässe verfehlten den Adressaten, und wenn einer ankam, blieb der Ball an einem Stock hängen. "Die haben hart am Mann verteidigt, auch garstig", sagte Rühr.

Die Sekunden verrannen, aber gefährlich waren nur die Konter der Neuseeländer, die sich in den mittleren Vierteln vielleicht auch schon ein wenig verausgabten. In dieser Spielphase blieben sie jedenfalls wirkungsvoller. Dann brach das vierte Viertel an, die deutsche Abwehr verursachte eine Strafecke, Neuseeland verwandelte diese elegant, per Pass und Abpraller. 0:2, elf Minuten waren zu spielen, alles schien gelaufen zu sein. Trainer Valentin Altenburg nahm zehn Minuten vor Schluss Kapitän Moritz Fürste beiseite und eröffnete ihm, dass er Torwart Nicolas Jacobi für einen elften Feldspieler tauschen wolle. Sieben Minuten vor dem Ende verließ Jacobi den Platz, Martin Häner streifte sich das gelbe Leibchen über und sicherte hinten ab. Doch waren seine Fähigkeiten kaum gefragt. Häner verteilte die Bälle in Ruhe, die Deutschen kamen immer weiter nach vorne. Es war, als hätte der Gegner diese Maßnahme akzeptiert, vielleicht war er auch nur platt, jedenfalls wurde Neuseelands Team passiv.

Ein Fanblock, der schäumte wie eine Sekt-Schale

Das sind dann Situationen wie geschaffen für Rühr. Der Stürmer ist dazu da, um über die Flügel zu stürmen, Strafecken herauszuholen, Tore zu schießen. "Das geht nur mit einer Mannschaft, die einem das Vertrauen gibt", sagte Rühr, "die sagt, komm, nimm den Ball, mach was draus." Zwei Strafecken holte er heraus, eine verwandelte Fürste in der 56. Minute. Vor der dritten, sagte Fürste, haben ihn zwei Mitspieler flüsternd versichert, dass er diese verwandeln werde, dass sie an ihn glaubten, worauf Fürste sie wegschickte: "Soll der Gegner wissen, dass ich jetzt schieße?"

Die 60. und letzte Minute war schon angebrochen, Fürste traf, der deutsche Fanblock hinter Altenburg fing an zu schäumen wie eine Sekt-Schale. Alle stellten sich auf ein Penalty-Schießen ein, wobei die Deutschen sich dank ihres Torwarts Jacobi im Vorteil wähnten. Doch all diese heimlichen Kalküle waren hinfällig. Die Uhr lief ab - in der letzten Minute auf der Stadion-Anzeige sogar mit Zehntelsekunden - und bei etwa sechseinhalb Sekunden schnappte sich Timur Oruz den Ball und rannte die rechte Bahn runter. "Hau ihn rein", dachte Rühr, und Oruz haute ihn vors Tor, an die Kelle von Florian Fuchs, der schoss, und die Zeit für einen Moment zum Stillstand brachte.

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