Mit dem Attribut Wunderkind sollte man sparsam umgehen, aber am Mittwochnachmittag kam in der Arena Paris Sud 4 eines um die Ecke gebogen: Félix Lebrun, rotblonde Haare, Brille, Teenager aus Montpellier, 17 Jahre jung und schon die Nummer fünf der Tischtennis-Weltrangliste, der erste Europäer hinter vier Chinesen. Die Halle hatte sich da bereits warmgesungen: „Allez les Bleus, allez les Bleus!“
Um 15 Uhr begannen dann vier Achtelfinalspiele gleichzeitig, an Tisch 1 spielte ein Ägypter gegen einen Kasachen, an Tisch 3 spielte eine Frau aus Puerto Rico gegen eine Nordkoreanerin, an Tisch 4 lief ein Duell zwischen einer Rumänin und einer Österreicherin. Fast niemand achtete darauf. An Tisch 2 spielte Félix Lebrun gegen den letzten verbliebenen Deutschen im Einzeltableau dieser Olympische Spiele: Dimitrij Ovtcharov, 35.
Triathlon bei Olympia:Wenn das Schwimmen zum Boxkampf mit dem Wasser wird
Die Triathleten können endlich in der Seine schwimmen – mehr als die Wasserqualität plagt die Deutschen aber die Strömung. Und um den Medaillenkampf bringen sie dann zwei Stürze.
Ovtcharov ist der Tischtennisspieler mit den meisten Olympiamedaillen, sechs hat er schon beieinander, inklusive Teamwettbewerben, nach Paris ist er gereist, um mindestens eine siebte zu gewinnen. Für den jungen Lebrun, klar, soll es die erste werden. Zweimal hatten Lebrun und Ovtcharov bisher gegeneinander gespielt, zuletzt bei einem Champions-Turnier in Incheon, Südkorea. Beide Male hatte das Wunderkind gewonnen. Und so war es am Ende auch diesmal, wobei der Deutsche die Sache immerhin offen hielt bis in den siebten und damit allerletzten Satz.
Der Unterschied? Liegt in den Nuancen
Kaum war es losgegangen, schickte die Menge ein Donnergrollen durch die Halle: Die Tribünen sind aus Metall, wenn alle gemeinsam mit den Füßen trampeln, klingt es, als würde hier ein Güterzug direkt über das Dach rauschen. Der erste Satz ging dann auch ziemlich schnell weg, 9:11 aus der Sicht Ovtcharovs, im zweiten sah es zunächst ähnlich aus, 10:6 lag der Franzose schon vorn. Ovtcharov glich aus, hatte beim 13:12 selbst seinen zweiten Satzball. Dann streute Lebrun in ein Rückhandduell jenen Schlag ein, den seine Gegner alle kennen, mit dem sie aber trotzdem immer ihre Probleme haben – eine longline geschlagene Rückhand, die Ovtcharov auf dem falschen Fuß erwischte. Da hatte sich mal wieder ausgezahlt, dass Félix Lebrun ganz anders Tischtennis spielt als fast jeder seiner Konkurrenten auf diesem Niveau.
Als Félix Lebrun im Alter von drei Jahren mit dem Tischtennis anfing, tat er das mit dem sogenannten Penholdergriff, der vor allem in Asien populär ist: Félix eiferte damals einem Chinesen namens Chen Jian nach, der in Montpellier in der Mannschaft seines Vaters spielte. Die eigenwillige Wahl der Schlägerhaltung hat ihm dann niemand ausgeredet – was nun dazu führt, dass Lebrun der einzige Penholderspieler in den Top Ten ist. Es ist eine ähnliche Geschichte wie die des deutschen Europameisters und Weltranglistenelften Dang Qiu, der ebenfalls als Kind diese Technik wählte. Die meisten Chinesen an der Spitze der Weltrangliste sind dagegen inzwischen auf die eigentlich europäische Shakehand-Griffhaltung umgestiegen.
Der Unterschied? Liegt in den Nuancen. Etwas weniger Reichweite auf der Rückhandseite wird durch eine minimal kürzere Reaktionszeit ausgeglichen, es ist Geschmackssache, aber vor allem ist es: ungewöhnlich und manchmal unberechenbar. Etwa bei Lebruns gefürchtetem Rückhand-Longline. Der zweite Satz ging dann auch an den Franzosen, 15:13, ebenso wie der dritte, 12:10.
„Er ist ein brutaler Spieler, er geht sofort variantenreich rein“ – darauf hatte Dimitrij Ovtcharov sich eingestellt: „Aber ich bin auch gut in Form. Entscheidend wird deshalb sein, dass ich gut ins Spiel komme, wenn mir das gelingt, bin ich guter Dinge.“ Nun allerdings war in der Arena Paris Sud 4 das Gegenteil passiert. Lebrun hatte in den ersten Sätzen „sein bestes Tischtennis gespielt“, wie auch der deutsche Bundestrainer Jörg Roßkopf anerkennen musste. Doch dann kam Ovtcharov mit dem schnellen Spiel Lebruns und dessen raffinierten Aufschlägen plötzlich besser zurecht.
Der vierte Satz ging mit 11:8 an den Deutschen, der fünfte mit 11:3, der sechste mit 11:8. Für einen Moment schien Dimitrij Ovtcharov hier die spektakuläre Wende zu gelingen, „aber es ist oft so im Tischtennis, dass ein Spieler bei 3:0-Satzführung sich schwertut, das Match zuzumachen – aber im siebten Satz geht dann alles neu los.“ Ein, zwei schlechte Entscheidungen Ovtcharovs reichten, und Félix Lebrun lag im siebten Satz 5:1 vorn, „das war dann zu viel“, sagte Ovtcharov, „denn das ist ja seine Stärke, dass er vor allem in wichtigen Phasen oft gute Sachen spielt“. Mit 11:8 ging das Match schließlich an den Franzosen.
Während Ovtcharov also geschlagen von dannen zog und auf den Teamwettbewerb hoffen muss, feierte, sang und trampelte das Publikum einfach weiter. Der nächste Spieler an Tisch 2: ein junger Franzose aus Montpellier, rotblonde Haare, Brille: Felix’ drei Jahre älterer Bruder Alexis Lebrun. Er verlor gegen den Brasilianer Hugo Calderano.