Olympische Spiele:Der Sport will der Seelsorger der Gesellschaft sein – dabei ist es um ihn schlimmer bestellt denn je

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Völkerverständigung im Schatten der Ringe, gänzlich unpolitisch - dieses Klischee bemüht der organisierte Sport bis heute. (Foto: Paul Ellis/AFP)

Das zeigt sich vor allem an der Debatte um positiv getestete Schwimmer aus China.

Kommentar von Thomas Kistner

Die Olympischen Spiele in Paris eröffnen dem Internationalen Olympischen Komitee ein Geschäftsfeld, über das es endlich wieder an die Skeptiker in der westlichen Welt heranrobben kann. Alles so schön bunt hier! Inklusion, Diversität und Wokeness werden derart überbetont, als wäre gute Gesinnung eine neue Disziplin unter IOC-Sonnenkönig Thomas Bach. Im Boxturnier hat eine Frau, die bei der WM vor einem Jahr einen Geschlechtstest nicht bestand und deshalb disqualifiziert wurde, soeben ihre Gegnerin so vermöbelt, dass diese nach einem zu heftigen Treffer den Ring verließ. Na und? Der Weg nach Westen ist endlich frei, auf Gastgeber Paris folgen Italien, die USA, wieder Frankreich, Australien, wieder die USA. Es lebe das olympische Gutmenschentum – nach all den graumausigen Parademärschen in China, Russland, Ostasien.

Mit der Welt wandelt sich auch die Wahrnehmung Olympias. Für die Muskelindustrie ist das ein Gottesgeschenk. Deren Systemfeind sitzt im Westen, und jetzt sind sie dort voll mit ihrer gesellschaftlichen Spaltung beschäftigt. Kippelnde Zeiten. Da greift auch das westliche Publikum dankbar nach Olympias Glitzerbildchen, die es noch vor Kurzem als Sichtblende vor einem ruchlosen Geschäft abtat.

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Kommentar von Oliver Meiler

Der organisierte Sport, vorneweg das IOC, hat diese zeitpolitische Fügung erkannt. Wenn plötzlich der Bratwurststand als gesellschaftliches Lagerfeuer, jeder halbwegs eloquente Sportheld als nationaler Versöhner gelesen wird – dann ist doch alles gut! Dann ist nur noch Ablenkung gefragt, und der Sport mit seiner Strahlkraft schlüpft nur zu gerne in die Rolle des gesellschaftlichen Seelsorgers.

Das hilft verdecken, dass es um diesen Sport schlimmer denn je bestellt ist.

Was beim Tanz um die Seine untergeht, ist die Tatsache, dass der Maschinenraum des Ringe-Festivals Feuer gefangen hat. In diesem Maschinenraum wird mit Treibstoff hantiert – und ein erheblicher Teil davon als Doping dechiffriert. Aber keine Sorge: Das wird mit allen Mitteln bekämpft! Nichts bedroht ja Fairness, Integrität und Vorbildcharakter der Spiele so sehr wie der Betrug. Also: Null! Toleranz!

In Wirklichkeit sind in Paris etliche Sportler zugange, die schon mal positiv getestet wurden. Es zeigt sich ein Muster, betroffen sind vor allem Topleister aus China. Weil sich das Phänomen auf bald drei Dutzend Sportler summiert, Tendenz steigend, und weil die Verteidigungsarbeit von chinesischen Behörden kommt und den gesunden Menschenverstand beleidigt, drängt sich der Verdacht auf ein staatlich toleriertes Do … – halt, stopp! So geht’s nicht!

Das IOC kann es sich nicht leisten, auch noch China zu verprellen

Der olympische Sport hat doch diese absolut unabhängige Institution zur Hand, die er, nun ja, überwiegend selbst finanziert, befehligt und personell bestückt: die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada. Das ist ein Kontrollkommando, dem kein gedopter Pistolenschütze aus Vietnam durch die Lappen geht, keine indische Gewichtheberin. In Ernstfällen – also solchen, die große Skandale und politische Implikationen nach sich ziehen können – ähneln die biochemischen Sportfahnder ein wenig manchen Experten des RKI zu Corona-Zeiten: Zieht die Politik ihre Linie durch, weichen ehrfürchtige Wissenschaftler lieber an den Wegesrand zurück. Dann glaubt man gerne, dass sich 23 Schwimmer bei einem Hotelessen mit demselben Herzmittel kontaminiert haben – und zwar so kollektiv, dass es auch Schwimmer betraf, die laut ARD-Recherchen womöglich gar nicht in dem Hotel waren.

Die Linie der Sportpolitik hat im Fall China eine Blaupause: das russische Staatsdoping. Auch hier hatte das IOC unter Bach, seinerzeit eng liiert mit Freund und Förderer Wladimir Putin, größtmögliche Fürsorge gepflegt. Trotz der mit geheimdienstlicher Assistenz verseuchten Sotschi-Winterspiele durften bald wieder Hunderte Russen an den Start. Dass diese Dopingsaga aufflog, war einer Institution nicht zu verdanken: der Wada. Die hatte, als sich erste Whistleblower meldeten, diese offenkundig an die Russen verpfiffen – und andere Kronzeugen dann an Journalisten weitergeleitet. Später flohen die Whistleblower in die USA, sie leben noch heute im Zeugenschutz.

Das will der chinesische Whistleblower offenbar nicht. Jener Insider, der die lustige Hotelküchenthese gerade pulverisiert hat – er will mit der Wada nicht reden. Und wenn Zeugen aus gutem Grund just die Stelle scheuen, die eigens für Hinweisgeber geschaffen wurde: Dann ist jedes Vertrauen zerstört.

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Erst Russland, jetzt China. Bachs Tischtuch mit Putin ist zerschnitten, was immerhin die Chance eröffnet, mit ukrainischen Sportlern vor der Kamera zu posieren. Aber die Spiele gehen vorüber, dann wird der Streit mit den Russen hässlich. Putin verzeiht keinem Oligarchen, der von der Fahne ging, da macht er bei einem Sport-Olygarchen keine Ausnahme. Und die Sache wird sich ziehen: Bach will sich ja nach den Spielen durch die servile Mitgliederschar die IOC-Charta so zurechtbiegen lassen, dass er noch lange weiterregieren kann. Der Showdown läuft also; mächtige Freunde, die zu mächtigen Feinden wurden.

Putin sagt offen, dass er Olympia mit Gegen-Spielen angreifen will, einem neuen Weltsport. Mit Spielen der Freundschaft – und mit Brics-Games: ein Kräftemessen des neuen, auf mehr als 20 aufstrebende Staaten anschwellenden weltpolitischen Machtpols, an dem weitere Länder teilnehmen sollen. Verprellt das IOC nun auch noch China, wegen all der albernen Dopinggeschichten? Dann könnte es bald einer Macht auf Augenhöhe gegenüberstehen: Moskau und Peking mit ihren politischen Alliierten und Hintersassen. Das Paket hätte genug Gewicht, um die Sportwelt zu verändern. Zum Beispiel, indem es bald Spiele gibt, die den Topathleten aus aller Welt nicht mit Lorbeerkränzen, sondern mit satten Siegprämien winken.

Kleiner Trost für olympische Träumer: Westliche Athleten testet die Wada weiter mit aller Härte ihrer Regeln. Meistens zumindest.

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