Édith Piaf war am Sonntag in Versailles. Keiner hat sie gesehen, aber ihre Melodien erfüllten den Schlosspark des Sonnenkönigs. Alle ihre Ohrwürmer hatte sie mitgebracht, und am Ende schwang das ganze Stadion zu den Klängen von „Vie en rose“ und „Non, je ne regrette rien“, mit denen die 17-jährige Trakehnerstute Dalera und Jessica von Bredow-Werndl zu ihrer vierten olympischen Goldmedaille tanzten, nach Doppelgold in Tokio 2021 und dem Mannschaftsgold am Samstag in Versailles.
Nach dem Grand Prix Special mit kleinen Wacklern war nichts mehr selbstverständlich für die Einzelentscheidung. „Ich bin ein bisschen schlecht eingeschlafen gestern Abend“, sagte die alte und neue Olympiasiegerin nach dem Ritt. „Aber ich wusste, Dalera kann alles. Unsere Symbiose war wieder da. Heute ging es um Vertrauen, um Freude, Liebe und Vertrauen.“ Als vorletztes Pferd erschien die braune Primaballerina, das älteste Pferd in dieser Olympiakür, in der Ferne das Schloss, alle Hoffnungen dieser Welt ganz nah, und dazwischen, um nicht ganz der Realität zu entkommen, der abgedeckte blaue Swimmingpool für die Fünfkämpfer. In erhabener Haltung passagierte Dalera ins Viereck, die Füße immer einen Moment aushaltend, um der Bewegung noch mehr Würde zu verleihen. Unsichtbar unterstützt von ihrer eleganten Reiterin zelebrierte sie Piaffen, Passagen Traversalen, Fliegende Wechsel, Pirouetten und wie sie alle heißen, diese Lektionen, die schon am Hof von Ludwig XIV. geritten wurden. Fraglich, ob so gut.
Bei der Suche nach einem neuen Pferd will sich die Olympiasiegerin ein Beispiel an Isabell Werth nehmen
90,093 Prozent standen am Ende auf der Tafel, da kam auch die letzte Starterin, die Dänin Cathrine Laudrup-Dufour mit 88,93, nicht heran. Schlechter als erwartet, wurde sie nur Fünfte. Es soll nicht Daleras letztes Turnier gewesen sein, es gibt noch ein paar Abschiedsauftritte. „Sonst hätte ich ja schon während des Rittes geweint“, sagte ihre Reiterin. So sparte sie sich die Tränen für die Siegerehrung auf. Es war trotzdem so was wie ein letztes Mal. „Wir werden nie wieder in so einer Arena reiten, es war ein unglaublicher Tanzboden für uns“, sagte Bredow-Werndl. „Dalera hat ihr Herz für mich darin gelassen.“
Die Stute soll im nächsten Frühjahr in die Zucht, im Sommer 2026 wird dann, so hofft ihre Reiterin, ein Fohlen auf der Weide in Aubenhausen um sie herumspringen. Welche Pferde ihre Nachfolge antreten könnten, steht noch in den Sternen. „Ich sehe an Isabell, die immer wieder neue Pferde entdeckt, dass es geht“, sagte Bredow-Werndl und meinte ihre Teamkollegin Isabell Werth. „Das möchte ich jetzt auch versuchen. Aber es wird nicht einfach.“ Es wird nie eine zweite Dalera geben.
Werth hatte schon vor Daleras Schlussakkord gejubelt, da wusste sie bereits, dass sie mit Wendy eine Medaille hatte. Jede Farbe wäre ihr recht gewesen. Ihren acht Goldmedaillen fügte sie nun noch eine sechste Silbermedaille hinzu. Zu den Klängen von Barry Manilows „Mandy“ hatte sie auf der Rappstute mit dem Gardemaß von 1,85 Meter einen glanzvollen Test geliefert, voller Schwierigkeiten, der dem der Siegerin kaum nachstand, mit einem kleinen Versehen in den Galoppwechseln. Hier strahlte die Zukunft, jung, stark, schön, energisch und mit zehn Jahren erst am Anfang einer Karriere – unter einer Reiterin mit mehr Erfahrung als jede andere, aber entschlossen, „weiter Gas zu geben“. Hier mit einer Einzelmedaille auf dem Treppchen zu stehen, war für Werth mehr, als sie sich hatte erhoffen können. So kann es gehen, wenn zwei zusammenwachsen, die zusammengehören. Manchmal geht es ganz schnell.
Der dritte Deutsche, Frederic Wandres auf Bluetooth, verließ die Olympiaarena medaillenlos, aber glücklich
Die Bronzemedaille ging an die britische Weltmeisterin Charlotte Fry auf dem Glanzrappen Glamourdale. Ein geradezu mittelalterliches Ritterpferd, das während der Siegerehrung, als die Reiterinnen absaßen und aufs Podest kletterten, von zwei starken Männern gebändigt, die Blumenrabatten entlangparadierte. Das hätte Ludwig gefallen. Doch kaum saß „Lottie“ wieder im Sattel, lief der große schwarze Hengst brav wie ein Lamm. Ein Gentleman eben. Zwei Tage zuvor hatte er fotogen im Stall die niederländische Königin Maxima geherzt.
Der dritte Deutsche, Frederic Wandres auf Bluetooth, verließ die Olympiaarena medaillenlos, aber glücklich. Sein 15-jähriges Pferd war deutlich frischer als am Tag der Mannschaftsentscheidung, von Wandres war jetzt aller Druck abgefallen, er ritt jetzt nur noch für sich selbst auf Platz 13. „Vergiss nicht, dass du ab sofort Olympiasieger bist“, hatte ihm Bundestrainerin Monica Theodorescu noch vor dem Einreiten zugerufen. Ein Leben lang.
Endlich ging es auf die Ehrenrunde für die drei Medaillenreiterinnen – die Männer brauchen in der Dressur tatsächlich bald eine Quote. Da können alle ihre Pferde noch mal laufen lassen. Die letzte Runde gehörte der Siegerin. Und auf einmal, statt in erhabener Passage zu verharren, gab Jessica von Bredow-Werndl der Stute die Zügel frei. Lauf los, schien sie zu sagen. Dalera streckte sich. Und wer genug Fantasie hatte, der hörte aus dem Wald die Hörner der königlichen Jagdgesellschaft.
Am Ende gab es doch noch ein paar ernste Töne. Wie bei den anderen Pferdesportwettkämpfen wurde auch die Dressur von einem jubelnden Publikum begleitet, eine Abstimmung mit den Füßen für den Verbleib im olympischen Programm. Denn die Gefahr ist nicht gebannt, Bilder und Videos von Tierquälereien, zuletzt von der inzwischen suspendierten Britin Charlotte Dujardin, bedrohen den Sport. „Wir sind alle in der Verantwortung, so etwas zu verhindern“, sagte Isabell Werth. „Nicht erst Jahre später, um den größtmöglichen Schaden anzurichten. Sondern sofort.“