Man täte Alfred Gislason unrecht, würde man ihn als Griesgram bezeichnen. Aber als Werbefigur für Olympische Spiele hat sich der Bundestrainer der Handballer in seinen ersten Tagen in Paris auch nicht gerade präsentiert. Es sei „schon ein bisschen Karnevalsstimmung“ im Olympischen Dorf, hatte Gislason zu berichten, und – um das gleich klarzustellen: „Wir sind nicht hier, um zu feiern oder Selfies mit weltbekannten Sportlern zu sammeln.“ Also gut, vor der Euphorie steht für Gislason die Arbeit, das war schon immer so. Und deswegen wurde am Samstag Handball gespielt – und danach durften sich alle auch mal kurz locker machen.
Ein 30:27 leuchtete von der Anzeigetafel in der Pariser Arena, als die Schlusssirene ertönte, da war klar: Zum ersten Mal seit 2016 gelang es den deutschen Handballern, Schweden zu bezwingen. Mit einer spektakulären ersten Halbzeit, in der sich Torhüter Andreas Wolff mit seinem Gegenüber Andreas Palicka ein beeindruckendes Duell geliefert hatte. Parade Wolff, Parade Palicka, immer wieder ging es hin und her, erst nach neun Minuten fiel das dritte Tor der Partie. „So was habe ich noch nie erlebt, was in der ersten Halbzeit passiert ist“, sagte Renars Uscins, der sich mit acht Toren als bester Werfer hervortat. Gislason fand den Auftritt von Wolff „großartig“, und überhaupt: „Die Mannschaft insgesamt war einfach sehr stark.“
Dabei musste sie mehrere Rückschläge verkraften: Schon nach dem ersten Angriff fiel Tim Hornke verletzt aus, Verdacht auf Sehnenanriss im Fuß. Von der 16. Minute an musste das Team dann auch noch ohne seinen Spielmacher auskommen: Nach einem Foul an Albin Lagergren hatte Juri Knorr die rote Karte gesehen, sein Arm hatte den Schweden im Gesicht erwischt. Knorr konnte seiner Mannschaft schließlich nicht mehr helfen und musste hinter dem Spielfeld Platz nehmen. „Im ersten Moment denkst du: Das darf nicht sein, das kann jetzt nicht passieren“, sagte er später, aber hadern wollte Knorr nicht mehr mit der Szene: „Ich will ihn eigentlich nur an der Brust stoppen und treffe dabei sein Gesicht.“ Das kann im Handball schon mal passieren.
Plötzlich springen alle Franzosen auf, singen und tanzen
So eine rote Karte kann eine Mannschaft völlig aus dem Tritt bringen, aber in solchen Phasen zeigt sich vielleicht auch ihr wahres Gesicht. Knorr hat schließlich das Format eines Rückraumspielers, das im deutschen Handball lange gesucht wurde, doch auch ohne seine wuchtigen Tore und seine Spielübersicht konnten sich die Kollegen behaupten. Kapitän Johannes Golla ging mit Treffern aus den schwierigsten Winkeln voran, auch die Abwehr leistete starke Arbeit. „Man hat gesehen, was möglich ist, wenn wir an uns selbst glauben“, sagte Uscins. Lukas Mertens drückte es noch etwas euphorischer aus: „Wenn so etwas passiert, wächst du über dich hinaus. Geil, das haben wir uns echt verdient.“
Die gesamte Zeit über lieferten sich beide Teams eine enge Partie, beim 4:3 gingen die Deutschen nach 13 Minuten erstmals in Führung, die Stimmung in der Halle war aufgeheizt durch die Paraden der Torhüter. Wolff brachte es zur Halbzeit auf 47 Prozent gehaltene Bälle, Palicka auf 45, dann gab es zum Pausenpfiff (12:11) einen Handshake, als würden sich beide gegenseitig zu der guten Show beglückwünschen. „Ich habe mehrfach mental den Hut gezogen vor seiner Leistung“, sagte Wolff in Richtung von Palicka, und manchmal kann man das tatsächlich auch genießen, wenn dem Gegner beachtliche Leistungen gelingen. Vor allem dann, wenn man selbst als Sieger vom Feld geht.
Auch in der zweiten Halbzeit behielten die Deutschen die Nerven, was nicht immer so leicht war: Zwischendurch sprangen plötzlich alle Franzosen auf, sangen und tanzten, sogar die Nationalhymne wurde angestimmt. Da hatte es gerade – an anderer Stelle – Gold im 7er-Rugby gegeben, es war der erste Olympiasieg für die Gastgeber. „Wir waren ein bisschen verwirrt“, sagte Uscins, „das war für uns ein komischer Moment.“ Aber den Franzosen will man deswegen natürlich nicht das Feiern verbieten.
Schon am Montag geht es für die Deutschen weiter gegen Japan, zur ungewohnten Zeit um neun Uhr morgens. „Ich bin normalerweise Frühaufsteher, aber neun Uhr ist zu früh“, sagte Wolff. Aber klar: Auch die Japaner müssen mit dem zeitigen Anpfiff zurechtkommen. Mit dem Sieg gegen Schweden schwingen sich die Deutschen womöglich ein bisschen leichter aus dem Bett. Zumal es auch noch gute Erinnerungen an 2016 gibt: Auch in Rio waren die Handballer mit einem Sieg gegen die Skandinavier ins olympische Turnier gestartet. Am Ende gewann die deutsche Auswahl Bronze, Wolff war damals schon dabei. „Ich hätte nichts dagegen, auch eine Medaille bei diesen Spielen holen zu können, aber das ist noch ein sehr langer Weg.“
Neun Olympia-Neulinge hat Gislason in seinen Kader berufen. Und vielleicht, ganz heimlich, werden in den nächsten Wochen doch noch ein paar Selfies mit weltbekannten Sportlern geschossen. Natürlich erst nach verrichteter Arbeit.