Wie man ein vermeintlich aussichtsloses Spiel noch dreht, dafür hatten etwas früher am Sonntagabend die Fußballerinnen Australiens jede Menge Anschauungsmaterial geliefert. Gegen Sambia hatten sie ein Tor nach dem anderen kassiert, nach knapp einer Stunde lagen sie 2:5 zurück. Zwei zu fünf! Aber dann war es, als wären sie aus einem Tiefschlaf aufgewacht, die Matildas trafen und trafen und trafen – bis es nach 90 Minuten tatsächlich 6:5 stand. Das Problem war nur, dass der Eilbote einen Zusammenschnitt dieser Partie nicht rechtzeitig vom Stade de Nice die 200 Kilometer rüber ins Stade Vélodrome von Marseille bekam. Die deutschen Nationalspielerinnen hätten es gut gebrauchen können.
Ab der 44. Minute rannten sie einem 1:3 Rückstand gegen die USA hinterher, sie versuchten viel, bekamen den Ball aber nicht mehr ins Tor. Und so wuchs der Pausenstand noch zu einem 1:4-Endergebnis heran. Statt zum Gruppenersten aufzusteigen, bleibt das Team von Interims-Bundestrainer Horst Hrubesch nach diesem Dämpfer auf Platz zwei, dank besserer Tordifferenz im Vergleich zu den punktgleichen Australierinnen. Diese Position müssen sie nach dem letzten Gruppenspiel nächsten Mittwoch (19 Uhr, ARD) gegen Sambia halten – um sicher die nächste Runde des olympischen Turniers zu erreichen. Neben den ersten beiden Teams jeder Gruppe kommen aber auch die insgesamt beiden besten Dritten ins Viertelfinale.
Hrubesch wischte sich vor dem Anpfiff erstmal mit einem Tuch übers Gesicht. Was aber weniger Angstschweiß als den Temperaturen von 30 Grad geschuldet gewesen sein dürfte. Der 73-Jährige hatte zwei Expertinnen für die US-Profiliga NWSL, wo die Mehrheit des Nationalteams spielt, in seinen Reihen: Torhüterin Ann-Katrin Berger war im Frühjahr nach fünf Jahren beim FC Chelsea in die USA zu NJ/NY Gotham FC gewechselt. Sie kennt zudem die neue US-Trainerin Emma Hayes aus der gemeinsamen Zeit in London bestens. Und weil Sarai Linder erkältet ausfiel, rückte Felicitas Rauch in die Linksverteidigung. Die 28-Jährige war im Januar vom VfL Wolfsburg zu North Carolina Courage weitergezogen. Berger allerdings dämpfte direkt jegliche Erwartung auf Insiderwissen: „Ich schaue nicht so viel Frauenfußball, muss ich ehrlich sagen.“
Die USA nutzen gleich ihre erste Chance zur Führung
Aber die Wissenssammlung über die viermaligen Weltmeisterinnen und viermaligen Olympiasiegerinnen war auch so reichhaltig, auf deren hohe individuelle Qualität sowie ihr robustes, schnelles und cleveres Spiel konnten sich die Deutschen einstellen. Dass die USA mit ihrem Achtelfinal-Aus bei der WM 2023 wie die DFB-Frauen, die sich damals noch früher aus dem Turnier verabschiedeten, noch etwas geradezurücken haben, macht sie umso gefährlicher. Jedenfalls deutete sich früh an, dass niemand auf der Tribüne befürchten musste, einzuschlafen. Im Gegenteil, es blieb kaum Zeit, sich einen Pastis zu holen.
Die von Hrubesch ausgegebene Taktik war deutlich zu erkennen: Mutigen Offensivfußball wollte er sehen – und seine Spielerinnen lieferten das gewünschte Programm in einer Form, mit der sie die USA überraschten. In der vierten Minute griff Jule Brand einen Ball von Lindsey Horan ab und dribbelte sich auf der rechten Seite Richtung Strafraum, dann legte sie quer zu Lea Schüller. Die Szene war prädestiniert für einen Führungstreffer, aber Torhüterin Alyssa Naeher parierte. Die Deutschen blieben dran, nur erinnerten die US-Amerikanerinnen sich und alle anderen an ihren Status bei diesem Turnier und groovten sich ein.
Gleich ihre erste Chance nutzten die Rekord-Olympiasiegerinnen. In der zehnten Minute kam Rauch der mit Ball sprintenden Trinity Rodman nicht hinterher, parallel bekam Giulia Gwinn in der Strafraummitte die lauernde Sophia Smith nicht unter Kontrolle – und dann flog der Ball an Berger vorbei ins Netz. Nun mussten sich wiederum die Deutschen sammeln, was ihnen gelang. Der Ausgleich wurde eingeleitet nach einem Foul an Alexandra Popp, Sjoeke Nüsken bekam den Ball und gab ihn schnell weiter zu Gwinn. Die 25-Jährige vom FC Bayern hatte beim 3:0 zum Auftakt gegen Australien zwei Vorlagen gegeben, nun schloss sie in der 22. Minute selbst ins linke untere Eck ab.
Wie gefährlich Rodman und Smith in der Offensive sind, hatten sie beim 1:0 schon gezeigt, nun mischte sich auch noch die Dritte im effizienten Angriffsbund dazu: Mallory Swanson. Den ersten Abschluss in der 26. Minute setzte zwar wieder Smith los, den abprallenden Ball aber donnerte Swanson aus kürzester Distanz zum 2:1 zwischen den Pfosten und die noch auf sie zuhechtende Berger. Die DFB-Frauen wollten sich davon keineswegs einschüchtern lassen, aber unter Kontrolle bekamen sie die athletische Trias nicht wirklich. Und dann kam auch noch Pech dazu: Popp wollte klären, gab damit jedoch die Vorlage für Smith. Die 23-Jährige schickte den Ball in hohem Bogen auf die Reise. Ihr Schuss wäre vielleicht gar nicht so bedrohlich geworden, doch Rauch fälschte ab und verlieh dem Ball den entscheidenden Effet: Er knallte an den rechten Pfosten und von dort auf die gegenüberliegende Seite ins Netz.
Das Problem der Deutschen war: Sie bekamen auch nach der Pause die Spielkontrolle nicht zurück. Statt wie zum Start der ersten Halbzeit selbst das Tempo und die Richtung vorzugeben, jagten sie nun hinterher. Vielleicht hätte das Momentum wieder von dem Team in Weiß auf das Team in Pink gewechselt, wenn Brand das Tor nicht so knapp verpasst hätte (58.) oder wenn erst Nüsken und dann Schüller den Ball aus nächster Nähe über die Linie gebracht hätten (62.). Was fehlte, waren nicht Ideen, aber die Ruhe. In zu vielen Situationen agierten die Deutschen zu hektisch und ineffizient. Und nach einer stärkeren Drangphase übernahmen die USA wieder die Kontrolle.
In der 77. Minute geriet das aber in den Hintergrund, weil Popp mit einer Knieverletzung vom Platz musste. Der nächste Ausfall im Mittelfeld nach Lena Oberdorf? Popp gab Entwarnung: „Es ist mein Knorpelknie, das meldet sich hin und wieder mal.“ Was sie womöglich mehr beschäftigte, betraf ihre Analyse: „Wir haben uns nicht so clever verhalten.“ Ähnlich äußerte sich Gwinn, die fand, ihr Team habe „von den USA aufgezeigt bekommen, wie man seine Chancen ausnutzt.“ Und zwar bis zum Schluss.
Das vierte Tor hätte in der 84. Minute beinahe Rodman erzielt, Berger parierte sehenswert. Wenige Minuten später kam es dann trotzdem, nach einem Zuspiel von – natürlich – Swanson erhöhte die kurz zuvor für Smith eingewechselte Lynn Williams. Das Videomaterial vom 6:5 der Australierinnen gegen Sambia sollten sich die Deutschen in den nächsten Tagen also vielleicht zur Sicherheit anschauen.