Fechten bei Olympia:„Wir machen das für unser Land“

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Als das erlösende Signal kommt, brechen die Emotionen aus Olha Charlan nur so heraus. (Foto: Andrew Medichini/dpa)

Fechterin Olha Charlan gewinnt die erste Medaille für die Ukraine. Die Bedeutung ihres Siegs geht weit über den Sport hinaus: In Paris soll die ukrainische Delegation auf ihre Weise den Kampf gegen den russischen Aggressor repräsentieren.

Von Johannes Aumüller, Paris

Der große Jubel setzt mit leichter Verzögerung ein. Olha Charlan wirft sich schon mal zu Boden, ihr banger Blick geht aber zum Videoschiedsrichter, der beim Fechten noch unangenehmer wirkt als es ein Kölner Keller jemals sein kann. Als von dort dann das erlösende Signal kommt, bricht es aus Charlan heraus. Sie küsst die Planche, wirft sich ihrem Trainer an den Hals und spurtet ans Absperrgitter, wo ihr der Pressesprecher erst mal eine ukrainische Flagge in die Hand drückt – und wo inmitten der Mitglieder der ukrainischen Delegation dann viele, viele Tränen fließen.

Ausgelassener Jubel und Tränen kommen bei Olympischen Spielen ziemlich häufig vor, aber dies hier ist doch ein sehr spezieller Moment. Bronze hat die Säbelfechterin Charlan gewonnen, 15:14 nach einem knappen Fight, es ist die erste Medaille für die Ukraine in Paris. Und so dauert es eine Weile, bis die 33-Jährige später in der Mixed Zone erscheint, in der Athleten nach einem Wettkampf ihre Kommentare zum Geschehen abgeben sollen.

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An der berühmtesten Straße von Paris steht der Grand Palais. Sonst werden darin Ausstellungen gezeigt, nun empfängt das erhabene Gebäude die weltbesten Fechter. Eine Ode an einen Sport und seinen Raum.

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Wobei das in ihrem Fall mit klassischer Mixed Zone nur noch bedingt etwas zu tun hat. Erst empfängt sie eine blau-gelb gekleidete Journalistengruppe mit Applaus, dann folgt eine dicke Umarmung von der Frau von „Suspilne Sport“, der in der Ukraine die Wettkämpfe überträgt. Danach setzt Charlan zu einer langen Runde an, in der sie immer wieder erklärt, wie besonders das alles sei, was gerade in diesem ehrwürdigen Grand Palais geschehen ist. Jedem Ukrainer widmet sie im Grunde diese Plakette. „Das ist für mein Land, für die Leute in der Ukraine, für die Soldaten, die unser Land verteidigen, für die Athleten, die nicht hier sein können, weil sie getötet worden sind, und auch für alle, die hier sind, weil es wirklich schwer ist, wenn dein Land im Krieg ist.“

Die ukrainische Mannschaft ist nicht einfach als Sportdelegation in Paris. Sie soll hier auf ihre Weise den Kampf eines ganzen Landes gegen den russischen Aggressor führen und repräsentieren. Im vergangenen Jahr haben die politisch Verantwortlichen mal mit Boykott gedroht, wenn auch nur irgendein Russe in Paris auftauchen sollte; das haben sie später fallen lassen – 15 Russen sind nun ja da. So oder so wird die ukrainische Mannschaft nun durch und durch politisiert. „The will to win“, das ist ihr Motto; als klare Botschaft, die auf die Spiele in Paris wie auf den Krieg in der Heimat passt.

Charlan will für diejenigen kämpfen, die nicht nach Paris kommen konnten

Üblicherweise gibt sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) sehr strikt, wenn es um politische Botschaften am Rande von Wettkampfstätten geht. Aber das Auftreten des ukrainischen Teams wird geduldet. Ein paar Tage vor Charlans Bronzegewinn sitzt Wadym Hutzajt in einer Pressekonferenz im Pariser Kongresszentrum. Er ist der Präsident des nationalen Olympia-Komitees, bis vor Kurzem war er auch Sportminister. Jetzt gibt er die Losungen für die Spiele vor. „Für uns gibt es kein Festival des Friedens“, sagt er. Alle Athleten im Olympischen Dorf seien von Russland und dem Krieg betroffen. Die in Paris anwesenden russischen Sportler „existieren für uns nicht. Wir grüßen sie nicht. Wir schauen sie nicht einmal an.“

Olha Charlan sitzt auch bei dieser Pressekonferenz auf dem Podium, ebenso diverse andere hochkarätige Sportler, etwa die Tennisspielerin Elina Switolina. Zu Beginn stellt der NOK-Chef alle Anwesenden vor, Charlan ist als Erste dran. Hutzajt erwähnt nicht nur ihre sportlichen Erfolge, allen voran ihre fünf Weltmeistertitel und ihr Olympiagold mit der Mannschaft von 2008. Sondern vor allem auch, dass sie aus Mykolajiw kommt, „einer der am meisten bombardierten Städte unseres Landes“. Zwei Plätze weiter sitzt Charlan und kann ihre Tränen nur schwer unterdrücken.

Charlan, lange blonde Mähne, blau-gelb lackierte Fingernägel, ist eines der prominentesten Gesichter dieser 142 Mitglieder starken ukrainischen Delegation. Wie so viele andere Spitzensportler hat sie seit dem Kriegsbeginn ihr Land verlassen. Sie lebt und trainiert in Bologna, zusammen mit ihrem Mann, dem italienischen Fechter Luigi Samele, und ihrem Sohn. Vielleicht vier Tage sei sie in den vergangenen Monaten zu Hause gewesen, sagt sie, dreimal habe sie ihre Eltern gesehen, aber zum Glück sei ihre Schwester mit dem Neffen nach Paris gekommen.

Charlan hat früher einmal gesagt, dass der Sport ihre „Front“ sei. Und sie gibt auf der Pressekonferenz die Parole aus, die sie später wieder aufnimmt, als sie ihre Mission im Grand Palais für erfüllt betrachtet. „Wir machen das für unser Land“, sagt sie: „In erster Linie kämpfen und sprechen wir für diejenigen, die nicht hierherkommen können, weil sie von Russland getötet wurden – dies ist ihnen gewidmet, ebenso wie den Verteidigern und Sportlern, die uns dort schützen.“

Indem dem Team eine solche politische Bedeutung aufgeladen wird, steigt allerdings auch der Druck, und dies ist Charlan am Wettkampftag durchaus anzumerken. In Runde eins hat sie etwas Mühe, Runde zwei und drei absolviert sie mit Leichtigkeit, im Halbfinale gegen die Französin Sara Balzer scheidet sie dann aus. Zwischendurch schnaubt sie mit versteinerter Miene durch die Gänge.

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Im Kampf um Platz drei gegen die Südkoreanerin Choi Se-bin, da liegt Charlan zur Mitte sogar scheinbar aussichtslos zurück. 6:11 steht es, ehe auf der Tribüne auf einmal „Ol-ha, Ol-ha“-Sprechchöre einsetzen, und die kommen erkennbar nicht nur von der überschaubaren Gruppe ukrainischer Fans. Wenn man ein Skript hätte schreiben wollen, wie ein möglichst dramatischer Weg zur ersten ukrainischen Medaille hätte aussehen könnte, wäre es vom tatsächlichen Ablauf wohl nicht weit entfernt gewesen. „Ich hatte so viel Druck“, sagt sie, weil sie es unbedingt habe schaffen wollen, für sich, für ihre Familie, für ihr Land: „Es war so hart, vor allem in den vergangenen zweieinhalb Jahren.“

Charlan hätte fast nicht dabei sein dürfen, weil sie einer Russin den Handschlag verweigerte

Charlan hat in dieser Zeit auch die Hauptrolle in einem ungewöhnlichen Konflikt gespielt. Bei der WM in Mailand traf sie im Vorjahr auf die Russin Anna Smirnowa, gewann 15:7 und verweigerte ihrer Gegnerin den Handschlag. Die Folge: Disqualifikation. Der Einfluss Russlands war über all die Jahre in vielen Sportarten groß, und in kaum einem Sport war das so sehr zu spüren wie im Fechten. Da führte lange Jahre der Milliardär Alischer Usmanow das Regiment.

Nach großem öffentlichem Protest wurde Charlans Strafe dann zurückgenommen, und IOC-Präsident Thomas Bach sagte rasch eine Wildcard für Paris zu. Ausgerechnet der Mann, der über fast ein Jahrzehnt und noch nach dem russischen Überfall auf die Krim immer so moskaufreundlich agiert hatte. Seit dem Moment, in dem seine Beziehung zum Kreml in die Brüche ging, präsentierte sich Bach jedenfalls auch als Freund der ukrainischen Athleten; am Montag saß er sogar im Grand Palais, diese ganze Geschichte und der Ablauf dieses Abends dürften auch im Sinne des IOC gewesen sein.

Bei Charlan hat der Moment von Mailand trotzdem Spuren hinterlassen. „Das war natürlich eine schwierige Situation. Ich kann sagen, dass ich nichts ändern würde – und ich werde nichts ändern“, sagte sie in Paris: „Es war eine Botschaft an die ganze Welt, dass niemand die Augen verschließen kann vor dem, was passiert.“

Am Montagabend stand sie dann im Grand Palais als erste ukrainische Medaillengewinnerin der Spiele 2024. Wenn man sie richtig verstand, sollte das eine noch viel deutlichere Botschaft an die Welt sein.

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