Drei Frauen, die mit Olympia noch eine Rechnung offen hatten, betraten am Montagabend um kurz nach 17 Uhr zum ersten Mal das Holzoval in Saint-Quentin-en-Yvelines, wo ihre Rennmaschinen schon auf sie warteten. In den kommenden drei Stunden würde es um alles gehen. Um Gold.
So jedenfalls war es angekündigt. Im Vélodrome National begannen die Bahnradwettbewerbe dieser Spiele gleich mit dem Teamsprint der Frauen, oder, wie die Franzosen wieder viel eleganter sagen: im vitesse par équipes femmes. Drei Radsprinterinnen machen sich gemeinsam auf den Weg, die erste zieht das Tempo an auf beinahe 60 Kilometer pro Stunde, nach der ersten 250-Meter-Runde geht es zu zweit dem Ziel entgegen, und eine bringt es dann zu Ende, drei Runden in 45 Sekunden und ein paar Zehnteln, Hundertsteln und Tausendsteln. Am Ende geht es immer um die Tausendstel, das ist das Problem.
Deutsches Triathlon-Gold bei Olympia:„Wenn ich in zwei Tagen krank bin, ist es für mich auch in Ordnung“
Das gab es seit 16 Jahren nicht mehr: Die deutsche Staffel schafft mit Gold im Mixed-Wettbewerb einen herausragenden Erfolg – selbst eine erneute Kontroverse ums Schwimmen in der Seine gerät für den Moment in den Hintergrund.
Für Deutschland starteten Pauline Grabosch, 26, Emma Hinze, 26, und Lea Sophie Friedrich, 24. Dass sie hier in Quentin-en-Yvelines um den Olympiasieg fahren wollten und um nichts anderes, war in ihrem Fall keine vermessene Anspruchshaltung. „Bei den Mädels geht es um Gold, alle Maßnahmen waren darauf eingerichtet“, hatte der Bundestrainer Jan van Eijden gerade erst wieder betont. Die Deutschen waren über Jahre das Maß aller Dinge in diesem Sport, gewannen viermal hintereinander die Weltmeisterschaft, hielten bis kurz vor den Spielen den Weltrekord von 45,848 Sekunden.
Die Cottbuserin Hinze war es dann auch gewesen, die gesagt hatte: „Ich habe noch eine Rechnung offen mit den Spielen.“ Vor drei Jahren bei den Corona-Spielen von Tokio war Hinze als dreifache Weltmeisterin angereist. Zurück nach Hause nahmen sie und Friedrich dann nur Teamsilber, die Chinesinnen waren ein paar Tausendstel schneller. Grabosch war in Tokio Ersatzfahrerin, damals wurde der Teamsprint bei den Frauen noch zu zweit ausgefahren.
Kurz vor den Spielen hatten die Chinesinnen den Deutschen den Weltrekord abgenommen
Nur Silber? So haben die deutschen Frauen das damals empfunden. Eine Silbermedaille kann glücklich und unglücklich machen, je nach Erwartung. Und nun also: die Revanche? So einfach ist es im Tausendstelsekundensport nicht, schon gar nicht bei Olympia, wo sich alles immer zuspitzt, wo alle immer in noch frappierenderer Form sind als sonst.
Kurz vor den Spielen hatten die Chinesinnen den Deutschen bereits ihren Weltrekord abgenommen, bei einem Rennen in Luoyang brausten sie in 45,487 Sekunden ins Ziel. Die Chinesinnen spielten nun aber keine Rolle mehr, plötzlicher Formverlust oder so. Dafür rangen in der Qualifikation im Vélodrome National nun die Frauen aus Großbritannien der sibirischen Fichte im Holzoval die nächste Bestzeit ab: 45,472! Der Grabosch-Hinze-Fiedrich-Express: Rang drei, 45,644.
Das kann der Moment sein, in dem die über Jahre antrainierte Selbstgewissheit dem Zweifel weicht. Wer wüsste das besser als Pauline Grabosch, die Studentin der Gesundheitspsychologie? Da ist man selbst so schnell wie nie – aber die anderen sind noch schneller! Man kann aber auch einfach ungerührt weiterfahren, und so hielten es nun die Deutschen: In der entscheidenden Runde waren sie es, die den Weltrekord unterboten, 45,377 Sekunden.
Dann kam Neuseeland: 45,348 Sekunden. Neuseeland? „Die hatten wir ehrlich gesagt nicht so auf der Rechnung“, sagte Emma Hinze später, offenkundig etwas verwundert über einen so unverhofften Leistungssprung in einer Disziplin, in der man sich oft jahrelang an die nächste Zehntelsekunde herantüfteln muss, „aber das ist Sport, wir können nicht darüber verfügen, was andere machen“. Und dann kamen noch einmal die Britinnen: 45,338. Damit war klar: Selten war ein Weltrekord so wenig wert wie jener von Grabosch, Hinze und Friedrich. Die Deutschen würden hier keine Rechnungen begleichen, keine Wunden heilen, sich keine unerfüllten Träume erfüllen. Sie fuhren nicht um Gold, sie fuhren um Bronze, gegen die Niederländerinnen.
Dieses Wettfahren gewannen sie dann auch deutlich, in 45,400 Sekunden. Und die Britinnen stellten im Finale gegen Neuseeland den fünften Weltrekord des Tages auf: Gold in 45,186 Sekunden. Das bleibt jetzt erst mal die Bestmarke.
Ob diese Bronzemedaille die drei Frauen nun eher glücklich oder eher unglücklich machen wird? Ja, man habe sich schon noch mal zusammenreißen müssen für das kleine Finale, gab der Bundestrainer van Eijden zu, die Enttäuschung sei im ersten Moment groß gewesen. Andererseits: „Wir wollten so schnell sein wie noch nie, das haben wir zweimal geschafft – und wenn dann andere Teams noch schneller sind, müssen wir das akzeptieren.“
Und als Grabosch, Hinze und Friedrich dann mit eher neutralen Gesichtern um die Ecke gebogen kamen, war es die Anfahrerin Grabosch, die unmissverständlich klarstellte: „Wir freuen uns sehr über diese Medaille, wir haben sie uns hart erkämpft, wir sind noch nie so schnell zusammen gefahren, wir standen mit Tränen in den Augen bei der Siegerehrung – und jeder, der jetzt etwas anderes sagt oder in eine andere Richtung abbiegt, liegt falsch.“
Genau genommen war es auch 2021 schon so gewesen, dass Emma Hinze und Lea Sophie Friedrich über ihre unglückliche Silbermedaille am Ende doch ziemlich glücklich waren. Was man hat, hat man. Und es gibt Dinge, die wichtiger sind als das ewige Spiel um Bronze, Silber und Gold. Pauline Grabosch etwa war damals mit auf der Bahn, als die Rekordweltmeisterin Kristina Vogel 2018 im Training so schwer stürzte, dass sie querschnittsgelähmt blieb. Grabosch machte eine Auszeit, suchte sich psychologische Hilfe. Am Montag gewann sie in Saint-Quentin-en-Yvelines ihre erste Olympiamedaille.
Eine Frage also noch an Emma Hinze: Kann man eine offene Rechnung auch mit einer Bronzemedaille begleichen? Ja, sagte Emma Hinze: „Es fühlt sich tatsächlich so an, dass das geht.“