Olympia 2010: Whistler:Schweizer Aufruhr

Kuhglocken, Dirndl und Holzgeschirr: Die Schweizer feiern jede Medaille mit einer Prozession durch Whistler. Natürlich straff organisiert.

Michael Neudecker, Whistler

Der Ort Whistler in Kanada hat eine schöne Fußgängerzone, mittendrin ist ein kleiner Platz, an dem ein Lokal mit dem Namen "Mountain Club" steht. Für die Dauer der Olympischen Spiele heißt es allerdings "House of Switzerland". Auf dem Haus hängen riesige rote Schilder und an den Wänden stilisierte Wintersportler, es ist wirklich unmöglich, das House of Switzerland zu übersehen.

Olympia: Schweizer Mannschaft

Schweizer Fans beim Abfahrtsrennen.

(Foto: Foto: AP)

Und wenn die Schweizer eine Medaille gewinnen, dann ist Whistler in Aufruhr. Sie prozessieren vom unweit entfernten Medals Plaza mit großem Spektakel hinauf zu ihrer Dependance, mit Kuhglocken und viel Folklore. Die Schweizer haben bei diesen Olympischen Spielen an den ersten drei Tagen bereits drei Goldmedaillen gewonnen, zwei davon am Montag: Dario Cologna holte das erste Schweizer Langlauf-Gold der Geschichte, Didier Défago das erste Abfahrts-Gold seit 22 Jahren. Allein deshalb war viel los in Whistler, weil praktisch jeden Tag prozessiert wurde mit Kuhglocken und Folklore.

Cologna und Défago führten den Zug nach der Medaillenzeremonie am Montagabend an, der wahrlich eine Prozession ist, hinter ihnen gingen zwei Frauen im Dirndl, die eine Schweizer Fahne trugen, und dahinter einige Männer mit Bommelmützen und riesigen Kuhglocken. Einem hatten sie sogar ein Holzgeschirr umgehängt, damit er zwei Kuhglocken tragen konnte, es war ein ohrenbetäubender Lärm, aber auch ein spektakulärer Lärm, wenn man bedenkt, dass das alles in einem kanadischen Bergdorf stattfand.

Die Leute jubelten, Schweizer wie Kanadier, sie liefen wild umher, jeder wollte ein Foto, Kamerateams und blitzlichtgewitternde Fotografen drängten sich dicht an den Zug. Didier Défago und Dario Cologna gingen langsam, sie sahen ein bisschen irritiert aus.

Aber die Schweizer sind natürlich immer noch die Schweizer, organisiert und professionell wie die Deutschen. Sie haben Mitteilungen an die Journalisten und Fotografen verteilt, in denen der genaue Ablauf erklärt wird, es gibt zu Beginn der Prozession auf einem abgelegenen Parkplatz die Möglichkeit zum Athletengespräch für die Schweizer Lokalradiosender, die keine Rechte haben und auch sonst bei Olympia nur schwer zu Interviews kommen, und die Fotografen wissen genau, wo sie stehen und gehen dürfen und wo nicht. Vielleicht muss man da anfangen, bei diesem Hang zur klaren Definition, wenn man ergründen will, weshalb die Schweizer nun den Medaillenspiegel der Olympischen Spiele anführen.

Im Ski alpin etwa haben sie vor sechs Jahren in Martin Rufener bei den Männern einen neuen Cheftrainer eingestellt, sie haben in den Jahren danach ein paar neue Strukturen eingeführt, und dann haben sie diese Strukturen konsequent durchgezogen. "Die Kontinuität ist sicherlich ein Grund für den Erfolg", sagt Dierk Beisel, der Leistungssportdirektor des Schweizer Skiverbandes Suisse Ski.

Die Männer haben nun gleich mehrere Fahrer, die gewinnen können, Didier Cuche zum Beispiel, den Haudegen, der den Abfahrtsweltcup in dieser Saison anführt, oder Carlo Janka, den Wunderjungen, der in Wengen die Abfahrt gewonnen hat und davor drei Rennen in Beaver Creek, oder eben auch Didier Défago. Hinzu kommen Fahrer wie Patrick Küng, der vergangene Saison die Abfahrtswertung im Europacup gewann und nun Défago den Startplatz für die Abfahrt von Whistler streitig gemacht hatte; es gab eine Trainersitzung, bei der diskutiert wurde, es wurde dann entschieden, Défago starten zu lassen, "aufgrund seiner Leistungen im Training und während der Saison", wie Beisel sagt. Es war eine gute Entscheidung.

"Wir sind eine Wintersportnation"

Défago hat vergangene Saison in Kitzbühel und Wengen gewonnen, in anderen Nationen, zum Beispiel Deutschland, wäre er eine Art Nationalheld - in der Schweiz ist er einer von mehreren Guten. "Er ist aber zu allem fähig", sagt Beisel. Zum Beispiel eben zum Olympiasieg, wenn auch spät: Mit 32 Jahren und vier Monaten ist er der älteste Abfahrts-Olympiasieger der Geschichte.

Olympia: Schweizer Mannschaft

Eine echte Wintersportnation, so ist das nun mal, trägt eben Kuhglocken.

(Foto: Foto: AP)

"Es war ein sehr schöner Tag", sagte Défago am Abend. Nicht nur für ihn, für die ganze Schweiz, "Olympia hat sehr stark angefangen für uns". Schon am Samstag hatte der Skispringer Simon Ammann Gold gewonnen, "er hat uns den Weg gezeigt", sagt Défago. Im Skispringen ist es ähnlich wie im Ski alpin: Auch da profitieren die Schweizer von professionellen Strukturen, die vor ein paar Jahren erneuert wurden, vor allem von Sportdirektor Gary Furrer.

Funktionierendes System

Anders als etwa in Deutschland, wo in vielen Sportarten das Wort des Cheftrainers unumstößliches Gesetz ist, setzt Furrer vor allem auf eine produktive Diskussionskultur - zum Beispiel hatten Ammann und dessen Kollegen ein Mitspracherecht, als ein Nachfolger des Cheftrainers Werner Schuster gefunden werden sollte, der 2008 zu den Deutschen ging. Nach Ende der Saison wechselt Furrer auf den Posten des Breitensportchefs, er hinterlässt ein System, das funktioniert.

Und nicht zuletzt gibt es ja noch die Sache mit der Identität, der Herkunft, der Umgebung, die die Schweizer nun mal naturgemäß haben. "Wir sind eine Wintersportnation", sagt Dario Cologna, der Langläufer. Und eine echte Wintersportnation, so ist das nun mal, trägt eben Kuhglocken.

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