Süddeutsche Zeitung

Offensive der DFB-Elf:Gewieft, verschlagen, stürmerlos

Die Spieler erkennen Räume, antizipieren Pässe und bewältigen enorme Laufwege: Auch ohne echten Stürmer schießt die deutsche Offensive vier Tore gegen Portugal. Miroslav Klose benötigt der Bundestrainer trotzdem - nicht nur als Maskottchen.

Von Thomas Hummel, Salvador

Miroslav Klose schob seinen Rollkoffer durch die Winkel des Stadionkellers. Um eine Ecke, um noch eine Ecke. An fast jeder wartete ein Reporter, der ihn bat, ein paar Worte zu sagen zu diesem Start der deutschen Mannschaft in die Fußball-Weltmeisterschaft. Doch Miroslav Klose wollte nichts sagen. Er schob seinen Koffer um die nächste Ecke, und die nächste, bis er endlich zu der Tür gelangte, hinter der der Mannschaftsbus wartete.

Dieser Klose hat auch schon mal ein WM-Turnier mit drei Toren eingeläutet. Am 1. Juni 2002 im Sapporo Dome gegen Saudi-Arabien. Es war der Beginn einer großen Karriere. Dreimal traf Klose per Kopf, am Ende hieß es 8:0. Der Bundestrainer hieß damals noch Rudi Völler und durfte sich nicht einmal Bundestrainer nennen, sondern nur Teamchef.

Zwölf Jahre später hat der große Klose 14 WM-Tore geschossen und benötigt nur noch eins, um den Rekord des Brasilianers Ronaldo einzuholen. Der heutige Bundestrainer weiß Großes über den Stürmer zu berichten: "Der Miro hat für die Mannschaft eine ganz hohe Wertigkeit, er ist in jeder Beziehung ein Vorbild. Er ist für uns unverzichtbar." Doch dann hat Joachim Löw auf den Unverzichtbaren doch verzichtet. Er brauchte ihn nicht, an diesem heißen Nachmittag in Salvador da Bahia.

Nicht ganz so hoch wie 2002, aber immerhin mit 4:0 haben die Deutschen das erste Spiel der WM 2014 in Brasilien gewonnen. Ganz ohne Klose. Den Einzigen, der in den gängigen Kaderlisten unter dem Punkt "Stürmer" auftaucht.

Das Land hatte einmal Seeler, Müller, Rummenigge. Hrubesch, Völler oder Klinsmann. In Salvador da Bahia hatte es nicht einmal Klose, dafür aber drei Offensivgeister, die vorne auf einer Linie die Portugiesen völlig durcheinanderbrachten. Und wenn derjenige, der zumeist vorne in der Mitte herumläuft drei Tore schießt, dann verstummt auch die Debatte, ob dieser jemand ein Stürmer ist, ein sehr offensiver Mittelfeldspieler, eine falsche, richtige oder verzwickte Neun.

Joachim Löw hat ein Spielsystem einstudiert, dass ohne den festen, statischen Mittelstürmer auskommt. Er tat das aus der Not heraus, weil Mario Gomez das gesamte Spieljahr verletzt war, und weil der inzwischen 36-jährige Klose auch nicht taufrisch durch die Saison kam. Der Bundestrainer musste dafür viel Kritik ertragen, Rufe nach Kießling und Lasogga schallten ihm entgegen. Doch dann schoss das stürmerlose Deutschland gegen Portugal vier Tore.

"Wichtig ist, dass die Räume besetzt sind, dass wir flexibel vorne sind, dass wir dadurch schwerer auszurechnen sind. Das ist der Grundgedanke", erklärte Mario Götze. Bei Thomas Müller hört sich das so an: "Egal, wer vorne spielt, wir werden uns immer bewegen." Wobei es durchaus eine gewisse Präferenz für die vorderste Position gab: "Der Plan war, dass ich mich meistens im Strafraum aufhalten soll. Aus gesehenen Gründen." Die gesehen Gründe lauten: 1:0, 3:0, 4:0 Thomas Müller. Er begann das Turnier wie Klose 2002 - mit drei Toren.

Das erste erzielte er per Elfmeter. Das zweite und dritte aber waren typische Müller-Tore. Geschickt, gewieft, verschlagen, clever. Wenn es darum geht zu erahnen, was als Nächstes passieren könnte, werden nicht viele auf dieser Fußballwelt mit dem Burschen aus Pähl in Oberbayern mithalten können.

Beim 3:0 ging er nicht der unerreichbaren Flanke entgegen, sondern antizipierte bereits den Befreiungsversuch des Verteidigers Bruno Alves. Müller blockte den Ball und schoss ihn direkt ins Netz. Beim 4:0 nutzte er einen Abpraller von Torwart Rui Patricio und schob ein. "Er gibt nie auf und erkennt den Raum. Heute war er Weltklasse", lobte Jérôme Boateng seinen Mitspieler.

Müller war die unverzichtbare Zuspitzung der deutschen Offensive. Mario Götze und Mesut Özil zeigten sich im Vergleich zum verpatzten Testspiel gegen Kamerun stark verbessert, vor allem Götze deutete sein riesiges Potenzial an. Doch ihre besten Chancen vergaben sie. Ob sie im Zweifel einen Klose ersetzen können, müssen sie erst zeigen.

Die neue deutsche Offensive stellte klar, dass sie auch prominente Gegner aus der Fassung bringen kann. Pepe verlor gegen Müller völlig die Nerven und musste mit Rot vom Platz. Doch auch als der Verteidiger von Real Madrid noch auf dem Platz war, hatten sich schon erstaunliche Löcher in Portugals Abwehr gefunden. Es musste nur ein Deutscher aus dem Mittelfeld nach vorne sprinten, schon stand er irgendwo im freien Raum und wartete auf den Pass. Vor allem Sami Khediras Laufwege überforderten die Portugiesen.

Als Löws sogenannte Spezialkräfte kamen, war das Spiel längst entschieden. André Schürrle und Lukas Podolski sollen mit ihrer Schnelligkeit und Geradlinigkeit nach der Pause einen müden Gegner überrennen, so der Plan. Vor allem Schürrle zeigte davon Ansätze und bereite das vierte Tor vor.

Brauchen die Deutschen den großen Klose also überhaupt noch? "Er hat keine Angst vor diesen Turnieren, weil er schon so lange dabei ist. Diese immense Erfahrung gibt er weiter", sagt Joachim Löw. Das deutet einerseits auf eine Maskottchen-Rolle hin. Doch andererseits wird es nicht immer zur Halbzeit 3:0 stehen. Es wird der Moment kommen, da werden die Deutschen froh sein, wenn Miroslav Klose seine Größe zeigt.

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