DFB-Elf:Mit verschlepptem Problem in den Flieger

Ilkay Gündogan mit Bundestrainer Joachim Löw vor seiner Einwechslung beim Freundschaftsspiel gegen Saudi-Arabien 2018 in Leverkusen.

Demonstrative Geschlossenheit: Bundestrainer Joachim Löw (re.) nimmt İlkay Gündoğan vor dessen Einwechslung in Leverkusen an seine Brust.

(Foto: Martin Rose/Bongarts/Getty Images)
  • Drei Wochen nach Özils und Gündoğans umstrittenen Fototermin mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan wird die deutsche Mannschaft die Debatte mit auf die Reise nehmen, wenn sie am Dienstag zum Unternehmen Titelverteidigung nach Moskau startet.
  • Einigen im DFB-Lager ist beim Länderspiel in Leverkusen wohl klar geworden, dass die Pfiffe deutscher Fans auch aus dem Umgang mit der Affäre resultieren.
  • In der Mannschaft haben offenkundig nicht alle das Verhalten von Gündoğan und Özil gutgeheißen, es gab Vorwürfe.

Von Philipp Selldorf, Leverkusen

Der älteste Trick des Fußballs ist der Bauerntrick und stammt vermutlich aus dem 19. Jahrhundert. Er geht so: Ball links am Gegner vorbeispielen und ihn zügig rechts überholen. Der Bauerntrick des 21. Jahrhunderts findet hingegen nicht mehr auf dem Spielfeld, sondern zeitgemäß in der Interviewzone der Stadien statt. Es ist der Handytrick, den die Profis zur Abwehr von Reporterfragen benutzen: Mobiltelefon ans Ohr halten, Gespräch vortäuschen, beschäftigt gucken und an den Gegnern vorbeilaufen.

In Leverkusen, nach dem letzten Testspiel vor der WM, hat alles nach dem Handytrick ausgesehen, als Oliver Bierhoff die Journalisten im Untergrund der BayArena stehen ließ. Offenbar in ein überaus dringendes Telefonat vertieft, kam er aus der Kabine der Nationalmannschaft - bis er das Gerät gleich nach dem Durchqueren der neuralgischen Medienzone in die Tasche gleiten ließ.

In der Tat hatte Bierhoff schon vor dem Spiel in Leverkusen genug gesagt, doch das Verhalten des DFB-Managers passte in die angespannte bis überspannte Szenerie, die sich nach dem sportlich unbefriedigenden und auch sonst als missglückt empfundenen Abschiedsspiel der Nationalelf vor der Abreise zur Weltmeisterschaft auftat. Dass während des 2:1-Siegs gegen Saudi-Arabien die Stimmungskurve im Stadion drastisch gefallen war und dass der Verlust der guten Laune beim rheinländischen Publikum nur am Rande mit dem knapp verpassten Ausgleichstor für die Saudis zu tun hatte, das sorgte bei den Akteuren der DFB-Crew für Betroffenheit und Unruhe.

So sah man den für seine Gelassenheit berühmten Bundestrainer Joachim Löw durch die Gänge des Stadions eilen, als würden er und sein Gefolge mitsamt der Leibwache von gefährlichen Bewaffneten verfolgt, während Mesut Özil (ebenfalls mit Leibwache und Gefolge in Person des Teamkollegen Julian Draxler) einmal raus und dann wieder rein und schließlich noch mal raus lief, und es dabei jedes Mal schaffte, die Leute am Wegesrand kunstvoll zu ignorieren. Bis er auf den letzten Metern doch noch eine Botschaft hinterließ: "Welche Pfiffe denn?", sagte Özil.

Dies war natürlich eine sarkastische Botschaft, denn die schrillen Pfiffe der Zuschauer gegen İlkay Gündoğan im Zusammenhang mit der Affäre Erdoğan waren das Thema des Abends, alle redeten darüber. "Niemand hat damit gerechnet", sagte Mats Hummels. Ein paar Unmutsbekundungen hatten sie beim DFB nach den Erfahrungen beim Spiel in Österreich sicherlich einkalkuliert, nicht aber dieses Gewitter, als Gündoğan sich nach 57 Minuten zur Einwechslung bereit machte. Bei jeder Ballberührung wurde er ausgepfiffen, nicht aus gewissen Ecken, sondern aus dem Rund der Arena. "Mit den Pfiffen war die Superstimmung weg", sagte Hummels.

Löw mit dem einfachsten aller Ratschläge: "Da muss er durch"

Es war dann schwer zu identifizieren, woran der deutsche Auftritt in der zweiten Halbzeit mehr gelitten hat: An den vielen Einwechslungen, die dem Spielfluss schadeten. Oder an den Unmutsäußerungen von draußen, die auf die Atmosphäre drückten. Bei Gündoğan, der die Misere in Abwesenheit des krankgeschriebenen Özil allein ausbaden musste, war die Antwort klar. Ihm gelang anfangs wenig, später nichts mehr, selbst bei den simpelsten Kurzpässen versagten dem Künstler die Füße. Er verließ das Haus ohne öffentlichen Kommentar, es war ohnehin für jeden ersichtlich, dass er niedergeschlagen und traurig war.

Am nächsten Tag sendete er per Twitter eine rührende, aber auch sehr verzweifelt anmutende Botschaft an die Mitbürger: Ein Bild, das ihn an der Seite von Thomas Müller, Julian Brandt und Timo Werner zeigt, während im Hintergrund auf den Rängen zwei Deutschlandfahnen geschwenkt werden. "... und immer noch dankbar, für dieses Land zu spielen", steht darüber. Bundestrainer Löw bekundete zwar, dass ihm die Pfiffe nicht gefallen hatten, aber für Gündoğan hatte er keinen anderen als den einfachsten aller Ratschläge: "Da muss er durch."

So weit ist es nun gekommen, drei Wochen nach Özils und Gündoğans umstrittenen Fototermin mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan. Die Pfiffe wird die Mannschaft mit auf die Reise nehmen, wenn sie am Dienstag zum Unternehmen Titelverteidigung nach Moskau startet, und einigen im DFB-Lager ist in Leverkusen wohl klar geworden, dass diese unerwünschte Begleiterscheinung auch aus dem Umgang mit der Affäre resultiert. Man hat das Problem verkannt und verschleppt. "Darüber muss man einfach reden", empfahl Hummels nun.

Auch in der Mannschaft ist über die Aktion von Özil und Gündoğan diskutiert worden. Offenkundig haben nicht alle ihr Verhalten gutgeheißen, es gab Vorwürfe. Aber dann wurde zumindest im Mannschaftsrat beschlossen, dass die beiden zum Team gehören und deswegen auch die Solidarität des Teams spüren sollen. Mario Gomez sprach von einem "Fehler" der beiden und nahm speziell den besonders gebeutelten Gündoğan in Schutz: "Er hat nichts Böses getan, im Sinne von: jemandem weh getan. Jetzt haben heute alle ihre Meinung gesagt, und wir wissen, dass das nicht gut angekommen ist in Deutschland." Auch Kapitän Manuel Neuer machte Werbung für Gündogan: "Es war ein guter Schritt von İlkay, dass er sich gestellt und Stellung bezogen hat."

Gomez wünscht sich, dass die Diskussion nun, da die Spiele demnächst beginnen, an ihr Ende kommt. Die Kommentatoren sollten in der Debatte "nicht spalten, sondern eine Brücke bauen, damit wir mit anderen Gedanken in die WM gehen können". Selten ist eine deutsche Mannschaft mit so vielen demütigen Appellen zum Turnier aufgebrochen.

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