Zum Tod von Matti Nykänen:Er kellnerte, er strippte, er sang

Zum Tod von Matti Nykänen: Matti Nykänen bei den Winterspielen 1988 in Calgary - immer neue Weiten im Blick.

Matti Nykänen bei den Winterspielen 1988 in Calgary - immer neue Weiten im Blick.

(Foto: AFP)

Der Tod eines der besten Skispringer der Geschichte trifft Finnland hart: Matti Nykänens Leben war auf Verschleiß angelegt, aber seine Erfolge bleiben unvergessen.

Nachruf von Thomas Hahn

Die Biografie, die Matti Nykänen 2003 mit dem österreichischen Autoren Egon Theiner herausbrachte, trug den bezeichnenden Titel "Grüße aus der Hölle". Um sie zu vermarkten, kam er damals zur Vierschanzentournee. Er reiste neben dem Tross der Skispringer zu seinen alten Wirkungsstätten und entfaltete dabei jene seltsame Aura zwischen Rausch und Größe, die in Finnland längst ein Teil des Alltags geworden war. Ehrfurcht und Befremden begleiteten ihn.

Beim Tournee-Empfang ließ er sich eine Gesangseinlage nicht nehmen. "Life is Life" auf Finnisch, immerhin Playback. Er trank Bier und lächelte Journalisten an. Beim PR-Auftritt in einem Einkaufzentrum in Salzburg-Kleßheim lag eine glasige Seligkeit in seinen Augen. Er war zu laut, man sah ihm die Alkoholkrankheit an. Trotzdem schaute ein Vater zu ihm auf und erklärte seinem Kind, das sei Nykänen, der Olympiasieger, einer der begabtesten Skispringer der Sportgeschichte.

Nun ist Matti Nykänen tot. Mit dieser traurigen Nachricht sind die Finnen am Montagmorgen aufgewacht. Sie waren überrascht, weil Nykänen erst 55 Jahre alt war, aber so richtig verwundert waren sie nicht. Das Leben des Matti Nykänen war auf Verschleiß angelegt, seine Sucht, seine bisweilen handgreiflichen Streitigkeiten zeigten, dass sein Privatleben nicht gesund war.

Nykänen gewann alles, was sein Sport hergab

In den letzten Jahren war es etwas ruhiger um ihn, trotzdem gab es immer wieder Nachrichten von seiner Trunkenheit. Außerdem war bekannt, dass Nykänen ein Aufmerksamkeitsdefizit und Diabetes hatte. Sich kopfschüttelnd um Matti Nykänen Sorgen zu machen, war eine Regung, die viele Finnen vereinte. Sie wussten, dass er sein Leben radikal hätte umkrempeln müssen. Aber das konnte er nicht.

Vielleicht konnte Matti Nykänen es auch deshalb nicht, weil die Tragik seiner Existenz auch ein Erfolgsmodell war für ihn. Berühmt wurde er als Skispringer. In den Achtzigerjahren dominierte er seinen Sport. Er war nicht der Prototyp des disziplinierten Winterathleten. Es gab schon damals viele Geschichten von Alkoholeskapaden und demolierten Hoteleinrichtungen. Aber an der Schanze funktionierte er teilweise auch nach durchzechten Nächten mit unbestechlicher Präzision. Er hatte Sprungkraft, ein Gespür für die Kräfte der Luft und einen ausgeprägten Instinkt für das richtige Timing beim Absprung.

Nykänen war nie zu spät am Schanzentisch, sagen Experten, und so gewann er alles, was sein Sport hergab: vier Mal den Gesamtweltcup, zwei Mal die Vierschanzentournee, eine Skiflug-Weltmeisterschaft, sechs Mal WM-Gold, vier Mal Olympia-Gold. Bei den Spielen von Calgary 1988 war er mit drei Siegen der überragende Springer. Sein Rekord von 46 Weltcupsiegen hielt bis 2013, als der Österreicher Gregor Schlierenzauer ihn einstellte und ausbaute. "Bei Matti Nykänen hatte man das Gefühl, er beginne schon im Anlauf zu fliegen", schrieb mal der österreichische Olympiasieger und Skisprung-Philosoph Toni Innauer.

Aber mit 27 war seine Sportler-Karriere zu Ende. Nykänen verlor seinen Halt. Er war kein begabter Schüler gewesen, er hatte keine Ausbildung. Seinem Genie hatte er immer wieder mit Eigensinn und Frechheit Raum verschafft. Außer Skispringen konnte er eigentlich nur eine Tätigkeit wirklich gut: Nykänen sein, mit all seinen Schwächen. Also wurde er ein Idol der Klatschspalten, ein Unterhändler des schlechten Geschmacks, eine Figur zwischen Absturz und mühsamem Balanceakt. Ein Nykänen eben. Er kellnerte. Er strippte. Er sang.

Warum wurde Nykänen, wie er war?

Er verkaufte sein Privatleben exklusiv an das Boulevardblatt 7 päivää (7 Tage). Und man kann nicht einmal sagen, dass er damit erfolglos gewesen wäre. Bei seinen Stimmungsliedern traf er die Töne nicht, aber das änderte nichts daran, dass er umjubelte Konzerte gab und sich seine ersten Platten gut verkauften. 2008 wurde er Ü40 Weltmeister im Skispringen. Sein Leben wurde verfilmt. Er hatte Auftritte bei einer Reality-Show. Und bei 7 päivaa war man zufrieden. Reporter Kai Merilä sagte mal: "Wenn er auf dem Titelblatt ist, verkauft sich die Zeitung besser als normal."

Nykänen kannte den Wert seines Wahnsinns. Er sagte: "Viele finnische Zeitschriften könnten mir Tantiemen zahlen. Ich habe ihnen so große Einnahmen gebracht." In Wirklichkeit waren seine Geschichten teilweise überhaupt nicht lustig. Vor allem mit Mervi Tapola, einer von insgesamt fünf Ehefrauen, lieferte er sich gewaltsame Auseinandersetzungen. 2004 musste er ins Gefängnis, nachdem der Streit mit einem Freund um eine Partie im Fingerhakeln als Messerstecherei geendet hatte; 13 Monate blieb er in Haft. Sein Ende wirkte nah. Damals hatte manche Redaktion für den Notfall Nachrufe auf Nykänen in der Schublade.

Sein Vater soll gewalttätig gewesen sein

Die kleine Welt des Skispringens tat sich schwer mit ihrem einstigen Helden. Nykänens Erben im finnischen Skiteam schwiegen beredt, wenn sie auf die jüngsten Ausfälle des Landsmannes angesprochen wurden. Und als Nykänen 2003/04 zur Tournee kam, waren die Organisatoren nicht durchgängig entzückt. Offizieller Ehrengast war damals der Österreicher Walter Habersatter, der Tournee-Zweite von 1959. Trotzdem schauten alle nur auf Nykänen, und die Tourneeleitung war damals ziemlich sauer, wenn man den hochdekorierten Finnen statt Habersatter als Ehrengast der Tournee bezeichnete.

Warum wurde Nykänen, wie er war? Er soll einen gewalttätigen Vater gehabt haben. Seine ersten Erfolge trafen ihn unvorbereitet als Teenager. Und Toni Innauer sagte damals im Einkaufszentrum von Salzburg-Kleßheim: "Menschen wie Matti Nykänen machen eine sehr intensive Ausbildung, mit 25, 26 ist diese Ausbildung nichts mehr wert. Er legt die Geige weg. Er geht in Frühpension, das ist die Härte." Aber wahr ist auch, dass Teile der Medien-Gesellschaft das Leben des Suchtkranken Nykänen konsumiert haben wie eine fortlaufende Seifenoper.

Nykänen wirkte lange wie ein Nationaltrinker, in dessen Wirrungen sich die Menschen im Land der langen, dunkeln Winter aufgehoben und sicher fühlen konnten. Sie werden Matti Nykänen vermissen, und sie werden das aus besseren Gründen tun als die Blattmacher von 7 päivaa. Für diese war Nykänens Tod die letzte Exklusivnachricht aus einer langen, rücksichtslosen Zusammenarbeit.

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