Süddeutsche Zeitung

1. FC Nürnberg:Einmal kein Depp

Im dramatischen Relegationsspiel gegen Ingolstadt hat der 1. FC Nürnberg ausnahmsweise einmal Glück - eine Saison der verpassten Ziele endet mit einer Feier. Nun steht ein Neuanfang an.

Von Sebastian Fischer, Ingolstadt

Die Stimme, die man wie keine zweite mit dem 1. FC Nürnberg verbindet, war auch diesmal zu hören. "Hier ist Nürnberg, wir melden uns vom Abgrund", hat Günther Koch als Radioreporter gesagt, als er 1999 den fünften von neun Abstiegen aus der Bundesliga kommentierte, und man sollte sich an die Bilder von damals noch einmal erinnern, um die Bilder vom Samstag zu verstehen. Frank Baumann, inzwischen abgrunderprobter Manager von Werder Bremen, damals Nürnberger Defensivspieler, hatte am letzten Spieltag in der vorletzten Minute gegen den SC Freiburg noch die Chance zum Tor, das den Abstieg verhindert hätte. Doch aus kürzester Distanz brachte er den Ball nicht im Tor unter. Der Club hat kein Glück, das ist spätestens seitdem für die Menschen, die mit ihm leiden, eine scheinbar unumstößliche Wahrheit.

Koch, 78, gehört seit 2011 zum Nürnberger Aufsichtsrat, und deshalb hörte man seine Stimme auch am Samstag, beim Rückspiel der Relegation um einen Platz in der zweiten Bundesliga beim FC Ingolstadt. Man hörte sie jedenfalls in der Nähe der Nürnberger Bank, auf der Tribüne im Unterrang darüber saßen die Funktionäre. Und als sie im Jubel über ein schwer begreifbares Spiel allesamt die Fassung verloren, sagte Koch: "Danke, Ball." Als hätte der Fußball höchstpersönlich beschlossen, Nürnberg diesmal zu verzeihen.

Eine der schwächsten Spielzeiten in der 120 Jahre langen Vereinsgeschichte

Der Ball war in der sechsten von fünf angezeigten Minuten der Nachspielzeit ins Tor des FC Ingolstadt gerollt, am Torhüter namens Marco Knaller vorbei, mehr gestupst als geschossen nach einem Sprung und einer Grätsche vom Nürnberger Stürmer Fabian Schleusener, der bis dahin in dieser Saison nicht getroffen hatte. Es war das Tor zum 1:3, das zusammengerechnet mit dem 2:0 aus dem Hinspiel reichte, um den zweiten Nürnberger Abstieg in die dritte Liga nach 1996 zu verhindern.

Am Sonntag begann beim neunmaligen deutschen Meister die Aufarbeitung einer der schwächsten Spielzeiten in der 120 Jahre langen Vereinsgeschichte. "Das war eine Scheiß-Saison, das weiß jeder", sagte Kapitän Hanno Behrens. Es war eine Saison, die nach dem Abstieg aus der Bundesliga mit Rückkehrplänen begann. Dann entließ Sportchef Robert Palikuca zunächst den im Sommer verpflichteten Trainer Damir Canadi und nach dem 34. Spieltag dessen Nachfolger Jens Keller. Die Mannschaft wirkte, als finde sie nie zueinander.

Trotzdem war es wieder eine dieser Geschichten, die sie in Nürnberg nicht mehr hören können, eine vom Club als Depp, als der Abstieg am Samstag unmittelbar bevorstand. Für Keller hatten die Interimstrainer Michael Wiesinger und Marek Mintal übernommen, sie waren mit der Mannschaft in ein Kurztrainingslager gefahren, hatten eine emotionale Ansprache gewählt, die wohl nur sie so glaubhaft verkörpern konnten: Wiesinger, 47, selbst lange Spieler und Trainer, und Mintal, 42, als Torjäger eine Vereinsikone. So gewann Nürnberg das Hinspiel hochüberlegen mit 2:0 gegen Ingolstädter, die nach einer in rund einem Monat durchgepeitschten Restsaison in der dritten Liga ausgelaugt wirkten.

Doch es reichten ein paar Minuten im Rückspiel, um den Nürnbergern die Verunsicherung wieder in die Beine fahren zu lassen: In der 53. Minute faustete Torwart Christian Mathenia den Ball an seinen eigenen Mitspieler Patrick Erras, Ingolstadts Stefan Kutschke traf. Ein Glückstor, doch nun wirkte der Außenseiter, vom irrwischartigen Trainer Tomas Oral angetrieben, wie aufgeputscht - und die Nürnberger wirkten ängstlich. In der 62. und 66. Minute kamen Ingolstädter nach harmlosen Freistößen frei zum Kopfball, plötzlich stand es 0:3. Plötzlich schien auch Wiesinger die Angst im Gesicht zu stehen. Man muss auch seine Geschichte kennen, um die Dramatik zu verstehen: Sechs Jahre lang, von 1993 bis 1999, spielte er in Nürnberg, stieg von der ersten bis in die dritte Liga ab, wieder bis in die erste auf, wieder in die zweite ab, dann ging er zum FC Bayern. 2008 debütierte er beim FC Ingolstadt als Trainer, drei Jahre später kehrte er nach Nürnberg zurück - coachte erst die zweite Mannschaft, wurde dann für zehn Monate Bundesligatrainer und 2013 entlassen. 2019 kam er zum zweiten Mal zurück, als Nachwuchsleiter.

Es waren berührende Szenen, wie er nach Schleuseners Tor über den Platz sprintete, allein bis zum Mittelkreis, die Fäuste ballte. Dann war er in tumultartige Szenen auf dem Rasen verwickelt, die Ingolstädter sahen sich benachteiligt, monierten ein vermeintliches Foul vor dem 1:3 und die lange Nachspielzeit. Wiesinger wurde vom Ingolstädter Stürmer Kutschke offenbar übel beleidigt, doch Wiesinger verzieh ihm. "Wir müssen uns beim Fußball-Gott bedanken, dass er uns noch mal die Hand gereicht hat", sagte er, sprach in jedem Mikrofon über die Mitarbeiter des Vereins, um die es gehe. In einem Fernsehinterview kamen ihm die Tränen.

Es geht in den Gesprächen nun auch um seine Position. Er werde ab Sonntag wieder Nachwuchsleiter sein, das hat Wiesinger am Samstag betont. Doch nun werden wohl Pläne diskutiert, die mehr Kompetenzen für ihn vorsehen, etwa Mitsprache in der sportlichen Leitung. Palikucas Zukunft ist fraglich, er steht in der Kritik. Die Verträge von Mittelfeldspieler Erras und Stürmer Mikael Ishak, die sich zu Protagonisten der Relegation aufschwangen, sind ausgelaufen, was Palikuca - wie auch die Kaderzusammenstellung - vorgeworfen wird. "Man sollte nicht übereilt Kurzschlusshandlungen vollziehen", sagte Aufsichtsratschef Thomas Grethlein. Weitere Spieler werden gehen, wohl auch U21-Nationalspieler Robin Hack. Mintal könnte neuer Trainer werden. Es wird ein Neuanfang, doch der wäre bei einem Abstieg weitaus schwieriger ausgefallen. Kaum ein Vertrag hätte wohl für die dritte Liga gegolten.

So jedoch endete eine Saison der verpassten Ziele mit einer Feier in Nürnberg am Valznerweiher, wo die Mannschaft von Fans empfangen wurde, manche fröhlich, andere eher wütend, es brannte Pyrotechnik, die Polizei war da. Im Bus, das ist durch ein Handyvideo überliefert, sangen die Spieler die Vereinshymne: "Die Legende lebt, wenn auch die Zeit vergeht."

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Quelle:
SZ vom 13.07.2020/sonn
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