Süddeutsche Zeitung

Formel 1:Eigenartig, alt - und für viele die schönste Rennstrecke

Der berühmte Nürburgring geriet zunehmend in Vergessenheit, doch durch Corona wurde die Rennstrecke für die Formel 1 wieder interessant. Die Rückkehr nach sieben Jahren ist für den deutschen Motorsport ein Segen.

Von Philipp Schneider, Nürburg

In der Eifel fällt das Wasser nicht nur vom Himmel. Es steht in der Luft. Wo hört der Nebel auf, wann fängt der Regen an? Das hat sich wohl auch der Rennfahrer Sebastian Vettel kürzlich gefragt; die Eifel, meinte Vettel, sei das Sibirien Deutschlands. Der Vergleich steigt einem nun in den Sinn, drei Tage vor der Rückkehr der Formel 1 an den Nürburgring, wo sie seit sieben Jahren nicht mehr haltgemacht hat. Feuchtigkeit kriecht hoch in die Mäntel der wenigen Besucher, die am Donnerstag schon da sind. Es ist klamm, durchaus trostlos. Aber bald schon sollen ja wirklich 20 000 Zuschauer kommen. Dann reißt sicher auch der Himmel auf.

Gleich am Eingang, neben der Haupttribüne, hängt das Gestell der Achterbahn "Ringracer" in der Luft wie eine graue Schlange in grauer Suppe. Technik, die nur noch nutzlos rumliegt, hat etwas berückend Kulturpessimistisches an sich. Man kennt das Prinzip aus Endzeitfilmen, in denen die letzten Überlebenden vor einem roten Himmel und auf der Flucht vor Zombies über verlassene Straßen laufen. Und im Hintergrund steht dann das Wrack eines Benzinlasters, der genau wie sein Inhalt schon seit Jahren nicht mehr gebraucht wird. Der Ringracer war mal gedacht als die schnellste Achterbahn der Welt. Er sollte Teil sein eines Freizeitareals mit Läden und Fahrgeschäften sowie einem Kino, Hotels, Diskotheken.

Das wollten sie sich auf dem Höhepunkt der Schumacher-Ära Anfang des Jahrtausends unbedingt leisten in der Eifel, um die Zuschauer zu binden, wenn mal ein paar Monate lang keine Formel 1 gefahren würde am Nürburgring. Sie ahnten nicht, dass schon sehr bald überhaupt keine Formel 1 mehr gefahren würde am Nürburgring. Aus einer toxischen Mischung aus Hybris und Verzweiflung versuchten sie, den Geldregen der goldenen Schumacher-Jahre in die Zukunft zu retten. Doch das Projekt, in das am Ende rund 350 Millionen Euro aus Steuergeldern flossen, geriet zum großen Flop. Es folgten die Verpachtung der Rennstrecke, die zu 90 Prozent in Landesbesitz war, Gerichtsprozesse und 2012 schließlich die Insolvenz. "Die Pharaonen haben sich Pyramiden in den Wüstensand gestellt, Kurt Beck den Nürburgring in die Eifel", ätzte der FDP-Mann Volker Wissing in Richtung des ehemaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz.

Und der Ringracer? Er funktionierte! Vom 31. Oktober 2013 bis zum 3. November 2013. Vier Tage lang. Rund 2000 Fahrgäste probierten die Sause, die 10,4 Millionen Euro gekostet hatte, dann wurde sie vom neuen Eigentümer dichtgemacht. Ihr Unterhalt rechnete sich nicht. Seither steht der Ringracer sinnbildlich für zwei größere Fragen: Wer zur Hölle kommt auf die Idee, eine Achterbahn samt Disneyland neben einer der berühmtesten Rennstrecken der Welt zu errichten? Und: Konterkariert eine vom TÜV abgenommene, für sicher befundene Jahrmarktattraktion nicht geradezu den naturgegebenen Reiz der von Fahrern gefürchteten Strecke nebenan?

Grün waren die Bäume, eine Hölle war die Fahrt über Kurven und Kuppen des Nordrings

Motorsportfans interessieren sich nicht für Kurt Beck, Volker Wissing und erst Recht nicht für den Ringracer. Für die Motorsportfans war der Nürburgring nie Politikum, nie Freizeitpark, sondern stets eine Pilgerstätte. Die Nordschleife, auf der bis zu Niki Laudas Inferno vor dem Streckenabschnitt Bergwerk im Jahr 1976 gefahren wurde, ist weltberühmt. Sie ist ein wichtiger Teil der Motorsportgeschichte, nicht nur der deutschen. Doch auch zu der seit 1984 befahrenen, wesentlich kürzeren und sichereren Rennstrecke strömten die Zuschauer in Massen. Bei den 18 Auftritten auf der neuen Grand-Prix-Strecke erklang siebenmal die deutsche Nationalhymne: fünfmal für Michael Schumacher, einmal für seinen Bruder Ralf und - bei der letzten Gelegenheit 2013 - für Sebastian Vettel. Es sei "schön, wieder zurück zu sein", befand Vettel. Er sei ja so etwas wie der "Titelverteidiger". Seit Vettels Titel machte die Formel 1 einen Bogen um den Nürburgring, weil niemand mehr die Antrittsgage aufbringen konnte. Der Nürburgring rechnete sich nicht mehr für die Formel 1. Solange, bis eine Pandemie den Planeten befiel und im Jahr 2020 die Spielregeln änderte.

Auf der Suche nach Orten, die noch halbwegs unberührt waren vom Coronavirus, entdeckten die amerikanischen Vermarkter der Formel 1 im vergangenen Sommer die Vorzüge von Europa und seiner vergessenen Traditionsstrecken. Nicht aus Nostalgie. Sondern aus dem üblichen knallharten Kalkül, aus dem sie vor Corona einen Bogen um sie machten, schlossen sie diesmal Verträge mit Mugello und Imola in Italien, mit Portimão in Portugal - und auch mit dem Nürburgring. Der erhielt gegenüber dem Hockenheimring auch deshalb den Vorzug, weil die Corona-Bestimmungen von Rheinland-Pfalz zum Zeitpunkt der Verhandlungen im Gegensatz zu denen von Baden-Württemberg die Möglichkeit von mit Zuschauern gefüllten Tribünen nicht ausschlossen. Je näher am Normalzustand sich eine Strecke präsentierte, desto attraktiver war sie für die Formel 1.

Die Antrittsgage in Höhe von rund 15 Millionen Euro, die der Nürburgring vor der Pandemie nicht mehr zu zahlen bereit war, musste Ring-Geschäftsführer Mirco Markfort diesmal nicht mehr aufbringen. Er habe einen Deal mit der Formel 1 geschlossen, der "das Risiko minimiert", sagt er. In den vergangenen Monaten wurde sein Hygienekonzept bei kleineren Veranstaltungen erprobt. Es gibt einen kontaktlosen Ticketkauf, der nur personalisiert und platzgenau möglich ist. Und es gibt eine Vielzahl von Tribünen, die sich über das Areal erstrecken und jeweils mit eigenen Parkplätzen ausgestattet sind. Diese Einteilung in kleinere Gruppen soll die sogenannten Super-Spreading-Events verhindern. Und die frische Eifelluft einen Beitrag bei der Bekämpfung der tückischen Aerosole leisten. Für den Motorsportstandort Deutschland ist es ein Glücksfall, dass ihn die Formel 1 in der Not besucht, damit diese eigenartige, alte, und für viele Rennfahrer und Zuschauer schönste Rennstrecke nicht vergessen wird.

Mick Schumacher, der Sohn des Rekordweltmeisters, gibt sein Formel-1-Debüt bei einem Test

Mitte der Zwanzigerjahre waren es die Arbeitslosen, die mit Händen und Spaten eine "Gebirgs-, Renn- und Prüfungsstraße" in die Wälder der Eifel wühlten, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte: die 20,8 Kilometer lange Nordschleife. Jackie Stewart, der britische Rennfahrer, gab ihr einen Namen, der sich einbrannte: "Grüne Hölle". Grün waren die Bäume, eine Hölle war die Prüfung an sich. Stewart hatte Respekt vor dem Kurs, mit seinen schwer einzusehenden Kurven, Kehren, Kuppen. Mit knackigen Anstiegen und rasenden Abfahrten. "Schwer zu fahren, leicht zu sterben", sagte Jochen Rindt. Und Rudolf Caracciola staunte bei der Premiere 1927: "Wir rissen die Augen auf: Mitten in den Eifelbergen lag eine Strecke mit Steigungen, die dem Motor scharf an die Lungen griffen."

Diese Steigungen existieren auf dem modernen Kurs zwar nicht mehr. Dafür aber gibt es dort nun Mick Schumacher, den Sohn des Rekordweltmeisters, der am Freitag sein Formel-1-Debüt bei einem Test im Alfa Romeo geben sollte. Doch dazu kam es nicht, das erste freie Training - in dem er fahren sollte - fiel wetterbedingt aus.

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Quelle:
SZ vom 09.10.2020/chge
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