Novum im Fußball:Das Fünf-Tage-Spiel von Belfast

England U19 Retake Last Minute Penalty Against Norway

Kuriose Szenen in Belfast

(Foto: Charles McQuillan/Getty Images)
  • Nach dem Qualifikationsspiel zur U19-Europameisterschaft der Frauen zwischen England und Norwegen lässt der europäische Fußballverband Uefa zum ersten Mal wenige Sekunden wiederholen.
  • Grund für die Wiederholung ist eine Entscheidung der deutschen Schiedsrichterin Marija Kurtes, die einen Elfmeter regelwidrig nicht wiederholen ließ.
  • Als es zum erneuten Anpfiff kommt, ist der Strafstoß aber fast bedeutungslos geworden. Beide Mannschaften sind schon qualifiziert.

Von Martin Schneider

Leah Catherine Williamson hat den Ball in ihre Hände genommen und weiß, was zu tun ist. Sie legt ihn auf den Elfmeterpunkt und will anlaufen. Aber sie darf nicht. Vor ihr steht die Schiedsrichterin Marija Kurtes und weist mit dem Arm energisch vom Tor weg. Williamson versteht nicht, sie wirkt verwundert. Als ihr klar wird, dass sie den gerade abgepfiffenen Elfmeter nicht wiederholen darf, zieht sie das Trikot über den Mund. Sie protestiert nicht. Auch von den anderen Spielerinnen der englischen U19-Mannschaft protestiert keine, obwohl sie wirklich allen Grund dazu hätten. Es ist dann der englische Fußballverband, der schließlich protestiert. Mit dem Ergebnis, dass Williamson den gleichen Elfmeter fünf Tage später nochmal schießen darf.

Es ist ein einmaliger Vorgang im europäischen Fußball, der sich dieser Tage in Belfast zugetragen hat und der ein Exempel für die Zukunft statuieren könnte. Der europäische Fußballverband Uefa entschied aufgrund des Protests: Die letzten Sekunden ab dem Strafstoß müssen neu gespielt werden. Im gleichen Stadion, mit den gleichen Spielerinnen, den gleichen Betreuern - aber mit einer anderen Schiedsrichterin. Das gab es noch nie.

Die Geschichte dieser beiden Strafstöße beginnt mit einem Pfiff von Marija Kurtes, 29 Jahre alt von der SG Benrath-Hassel. Sie pfiff am vergangenen Samstag in Belfast das Qualifikationsspiel zwischen England und Norwegen für die U19-Europameisterschaft der Frauen. Das Spiel ist wichtig, England und Norwegen sind die besten Teams in ihrer Gruppe. Der Sieger, das ist die Ausgangslage am Samstag, fährt fast sicher zum Endturnier. Es läuft die 96. Minute, Norwegen führt 2:1, England ist nur noch zu zehnt auf dem Platz, als Kurtes Elfmeter gibt. Rosella Ayane war in den Strafraum gedribbelt, eine Norwegerin ließ das Bein stehen. Einen Elfmeter, den man geben kann.

Meist werden Frühstarts nicht so streng geahndet

Williamson läuft zum Elfmeter an und während sie das tut, läuft auch ihre Teamkollegin Ayane in den Strafraum. Ayane bemerkt, dass sie zu früh dran ist, stoppt, läuft wieder zurück. In dem Moment trifft Williamson ins linke untere Eck. Schiedsrichterin Kurtes hat die Aktion von Ayane gesehen - und gibt das Tor nicht.

Jetzt ist es bei der Ausführung eines Elfmeters so: Alle Spieler außer des Schützen und des Torwarts müssen einen Abstand von 9,15 Meter zum Ball haben und dürfen erst dann aktiv werden, wenn der Strafstoß ausgeführt ist. In der Realität hält sich aber kaum ein Spieler daran, bei vielen Elfmetern laufen Fußballer zu früh in den Strafraum. Schiedsrichter ahnden das in der Praxis meistens nicht so streng, wenn daraus nicht ein direkter Vorteil resultiert, beispielsweise, wenn der Torwart hält und ein Spieler per Nachschuss trifft, weil er zu früh in den Sechzehner gelaufen ist.

Bei einem Fehlversuch wäre die Entscheidung korrekt

Die Konsequenzen eines zu frühen Loslaufens hängen nun davon ab, wer gestartet ist und ob der Elfmeter ins Tor gegangen ist. Wenn Spieler A schießt, Mannschaft B zu früh reinläuft und Spieler A trifft, zählt das Tor und es passiert nichts. Wenn Spieler A schießt, Mannschaft A zu früh reinläuft und Spieler A verschießt, kann es - streng nach Regelwerk - indirekten Freistoß für das verteidigende Team geben. Bei allen anderen Situationen wird der Elfmeter wiederholt.

Wäre das auch in Deutschland möglich?

Und genau diese Passage des Regelwerks hatte Marija Kurtes in dieser 96. Minute nicht richtig präsent. Sie sieht, dass Ayane zu früh in den Strafraum läuft, Williamson trifft. Und statt der Wiederholung des Elfmeters gibt sie indirekten Freistoß für Norwegen. Den hätte es aber nur geben dürfen, wenn Williamson verschossen hätte.

Die zuständige Kommission der Uefa begründet die Entscheidung zur Wiederholung mit der explizit falschen Regelauslegung. Es ist Punkt 6e des Uefa-Regelwerks, der die Spielwiederholung möglich macht. In Deutschland wurde zuletzt nach dem Phantomtor von Stefan Kießling in Hoffenheim darüber diskutiert. Damals entschied das zuständige Gericht aber auf Tatsachenentscheidung. Der Fall Hoffenheim unterscheidet sich insofern vom Belfast-Elfmeter, als dass Schiedsrichter Felix Brych damals nicht sehen konnte, dass der Ball durch ein Loch im Netz ins Tor ging. In Deutschland wäre eine Teil-Weiderholung auch nicht vogesehen, nur ein komplettes Wiederholungsspiel. Zur aktuellen Entscheidung der Uefa äußerte sich der DFB auf Anfrage nicht.

Die Engländerinnen mussten am Donnerstag nun gleich zweimal antreten. Erst, um 16 Uhr, gegen die Schweiz. Und danach nochmal für ein paar Sekunden. Williamsons Mutter soll extra die Flüge umgebucht haben, um ihrer Tochter zusehen zu können. Dem Sender ESPN sagte Williamson: "Ich habe nicht geschlafen, seitdem ich tags zuvor von der Wiederholung gehört habe." Die Ironie der Geschichte: Nachdem England die Schweiz 3:1 geschlagen hatte (Williamson hatte England in der 61. Minute in Führung geschossen - per Elfmeter) war England schon vor den Wiederholungs-Sekunden qualifiziert. Aber das konnte zum Zeitpunkt der Entscheidung noch keiner ahnen.

Als es dann schließlich zur Wiederholung kommt, sagt die neue Schiedsrichterin allen Spielerinnen noch einmal persönlich, dass sie nicht in den Strafraum laufen dürfen. Mit Erfolg: Alle bleiben stehen, Williamson schießt in die gleiche Ecke wie vor fünf Tagen, links unten. Sie trifft. Die Norwegerinnen dürfen den Anstoß noch ausführen, sie schlagen den Ball nach vorne, die englische Torhüterin nimmt ihn auf, verzögert, schlägt ab, Schlusspfiff. Und das Ende der Geschichte? Beide Mannschaften jubeln. England qualifiziert sich durch das Sechs-Tage-Spiel als Gruppensieger für die EM, Norwegen als bester Gruppenzweiter.

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