Novak Djokovic:Mentaler Gigant

Bei seinem fünften Sieg im All England Club wehrt der Serbe Matchbälle ab und ringt Roger Federer im längsten Wimbledon-Finale nieder - und er stemmt sich gegen das parteiische Publikum.

Von Barbara Klimke, London

Der Triumph fiel diesmal eine Nummer kleiner aus, und als der Goldpokal übergeben war und Novak Djokovic ans Mikrophon gebeten wurde, da war der Sieger der bescheidenste Mann im ganzen Stadion. "Leider", sagte er, "musste einer von uns verlieren." Er wusste, dass die Sympathien des Publikums zu einem überwältigenden Teil dem Unterlegenen gehörten, der ein paar Meter abseits stand.

Djokovic hat am Sonntagabend gegen Roger Federer gespielt. Aber der größere, mächtigere und einschüchternde Gegner war das Publikum auf dem Centre Court: Eine Wand, von der jeder Versuch, es zu besänftigen oder zu becircen mit seinen Kunstschlägen, feinen Returns, auf die Linien geschwungenen Passierbällen, harten Volleys oder weichen Stopps, abprallte wie kalter Regen. Und womöglich war die trotzige Beherrschung und Haltung, die er zeigte angesichts des allenfalls höflichen Beifalls, noch beeindruckender als der Fakt, dass er dieses Gigantenduell auf Gras gewinnen konnte.

Novak Djokovic: Richtiggehend frostig: Roger Federer und Novak Djokovic mieden Wort- und Blickkontakt nach der Partie. Auch Catherine, Herzogin von Cambridge (rechts), war da keine diplomatische Hilfe.

Richtiggehend frostig: Roger Federer und Novak Djokovic mieden Wort- und Blickkontakt nach der Partie. Auch Catherine, Herzogin von Cambridge (rechts), war da keine diplomatische Hilfe.

(Foto: Ben Curtis/AP)

Diese Rasenschlacht zwischen Federer, dem achtmaligen Wimbledon-Champion, und Djokovic, dem nunmehr fünfmaligen Gewinner, die mit fast fünfstündiger Spielzeit als längstes Endspiel in die Geschichte des Wimbledon-Turniers einging, endete im Tiebreak 7:6 (5), 1:6, 7:6 (4), 4:6 und 13:12 (3). Allein der fünfte Satz dauerte nervenaufreibende 122 Minuten.

Roger Federer gilt auch in London fast schon als "National Treasure" wie Ex-Beatle Paul McCartney

Djokovic, 32, in Serbien geboren, in Monte Carlo zuhause, hat bei Grand Slams kein Heimpublikum, darauf haben nach dem Finale viele Kommentatoren hingewiesen. Er kann so gut wie nie darauf vertrauen, dass die Begeisterung der Massen ihn durch die Höhen und Tiefen eines Matches trägt. Anders Federer: Fast überall, wo der 37-jährige Schweizer auftritt, schlägt ihm, bedingt teils durch sein Federer-leichtes Spiel, teils durch sein zuvorkommendes Wesen, eine Welle des Wohlwollens und der Wärme entgegen. In England, im Mutterland des Tennis, hat er Heimvorteil, gilt als Teil des gesellschaftlichen Establishments und fast als "National Treasure" wie Paul McCartney oder Schauspielerin Maggie Smith. Hochzeitsgast bei Pippa Middleton ist er mit Gattin Mirka gewesen. Auch das erklärt die Beobachtungen, die die Zeitung The Times anstellte: Djokovic habe am Sonntag im Finale gegen den Tennis-Adoptivsohn des Landes vor so einseitiger Kulisse spielte wie im Jahr 2013 an selber Stelle; und 2013 hatte er immerhin den britischen Tennishelden Andy Murray zum Rivalen, gegen den er damals verlor.

Day Thirteen: The Championships - Wimbledon 2019

Novak Djokovic verbuchte insgesamt zwar 14 Punkte weniger als Roger Federer...

(Foto: Shaun Botterill/Getty Images)

An Djokovic sind die "Roger, Roger"-Rufe nicht spurlos vorbeigegangen. Sie brandeten auf, als Federer im vierten Satz, nach 2:47 Stunden Spielzeit, das erste Break kassierte. Im finalen Durchgang steigerte sich die Lautstärke in der Tennis-Arena noch beim Stand von 8:7, als Federer zwei Matchbälle erkämpfte und den zweiten in die Maschen drosch. Nach dem Duell hat Djokovic zu erklären versucht, wie es ihm gelang, vor dieser negativen Geräuschkulisse nicht einzuknicken: Die Anfeuerung für den Rivalen zu ignorieren, sagte er, sei manchmal schwierig. Deshalb versuche er, den Lärm zu "transmutieren": eine Strategie, die so kompliziert ist, wie sie klingt. "Wenn die Menge 'Roger' brüllt, dann höre ich 'Novak'", erläuterte er lächelnd. "Das mag sich albern anhören, aber ich überzeuge mich selbst davon, dass es so ist."

Day Thirteen: The Championships - Wimbledon 2019

... dafür aber die wichtigsten.

(Foto: Clive Brunskill/Getty Images)

Djokovic erschafft sich durch einen Akt der Autosuggestion demnach auf dem Platz jene ihn schätzende, ihn verehrende, ihn antreibende Zuschauerschar, die er sonst nicht vorfindet in den Stadien. Das ist ein so rührend-bewegender wie bemerkenswerter Befund. Er hat des Öfteren über die mentalen Aspekte seiner Trainingsarbeit abseits des Platzes berichtet, denn Profitennis, dieses Strategiespiel mit fliegenden Bällen bei Geschwindigkeiten um die 200 km/h, wird auf diesem Niveau weniger durch den Umfang der Schultermuskulatur als durch einen klaren Kopf entschieden. Auch Federer hatte schon vor dem Finale prophezeit: Am Ende sei entscheidend, "wer sich besser fühlt an diesem Tag, wer geistig frischer ist, wer mehr Kraft übrig hat." Zu den "Visualisierungsübungen", auf die Djokovic vertraut, gehört es nach seiner Aussage auch, "sich jederzeit als Gewinner zu sehen".

Sport Bilder des Tages Ehefrau Mirka und Kinder von Roger Federer in der Spielerloge Siegerehrung

Zum Verdruss der Federer-Clans.

(Foto: imago images / Hasenkopf)

Dies mag auch ein Mittel gegen ein leises Gefühl der Benachteiligung sein, wenn es um die allgemeine Wertschätzung der sogenannten Großen Drei des Tennis geht: um Federer mit seinen 20 Grand-Slam-Trophäen, eingesammelt bei den vier bedeutendsten Turnieren in Melbourne, Paris, Wimbledon und New York; um Rafael Nadal, den Ballarbeiter von den Balearen, der es auf 18 Siege bringt; und um Djokovic, der nach Triumph Nummer fünf in London zu 16 Grand-Slam-Titeln aufgeschlossen hat. Nadal und Federer, "Fedal", wie man sie wegen ihrer seit 2004 heiß lodernden Rivalität zwischenzeitlich nannte, sind Publikumslieblinge auf jedem Court. Auch wenn sich die Massen an ihnen scheiden, abhängig von der Vorliebe der Zuschauer für Draufgängertum oder Gentlemen-Stil, für Sandplatzgewühle oder Rasenklassik.

Novak Djokovic' früherer Coach Boris Becker fordert mehr "Anerkennung für seine Größe"

Djokovic hat diese Rivalität erst mit einigen Jahren Verspätung erweitert und belebt. Für viele Federer-Bewunderer, die den Maestro verehrten, der mit einer Eleganz und scheinbaren Mühelosigkeit über den Platz gleitet wie ein Schwan über einen See, wirkte Djokovic' Auftreten, als schieße dieser mit einem Speedboot über dasselbe Gewässer. Sein Stil ist klinisch, seine Schläge sind hart und präzise, die Umsetzung seiner Strategie ist abgeklärt und kühl. Um sich zu motivieren, wirft er auf dem Platz mitunter mit Getöse den Motor an. Boris Becker, sein früherer Trainer, der ihn zwischen 2014 und 2016 zu sechs Grand-Slam-Titeln coachte, hat nun dazu aufgefordert, auch dies zu würdigen: als Ausdrucksform eines Champions. Die Tennis-Liebhaber sollten Djokovic, der durch den fünften Wimbledonsieg mit Björn Borg gleichzog, "Anerkennung für seine Größe" zollen, sagte Becker nach dem Finale in der BBC. Er glaubt sogar, dass der ungeliebte Dritte im Bunde die beiden anderen Titeljäger noch überholen kann.

Die Ruhe und Beherrschung, mit der Djokovic am Sonntag sowohl Federer als auch das Publikum niederrang, gibt einen Hinweis darauf, wozu er fähig ist.

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