Süddeutsche Zeitung

Nordmazedonien:Ein Land in Trance

Lesezeit: 3 min

Bei dem EM-Neuling vom Balkan prägt der Fußball den Streit um Tradition und Territorium besonders intensiv. Nun hoffen viele auf eine Stärkung der brüchigen nationalen Identität.

Von Ronny Blaschke, Berlin

Der Fußball schafft es neuerdings in die Hauptnachrichten der mazedonischen Fernsehsender. Seit dem 1:0 über Georgien letzten Donnerstag und der Qualifikation für die EM 2021 diskutieren sogar Politiker über den größten Erfolg der mazedonischen Sportgeschichte. Premierminister Zoran Zaev sprach von Stolz, Hingabe und Würde, doch wie viele andere vermied er, den noch jungen, offiziellen Landesnamen zu nennen. Die Änderung in Nordmazedonien war 2018 ein Kompromiss gegenüber der griechischen Regierung gewesen. Wegen der gleichnamigen griechischen Provinz Mazedonien hatte Athen jahrelang den Beitritt des nördlichen Nachbarn in Nato und EU blockiert. Für viele Mazedonier bis heute: ein Trauma.

In etlichen Ländern prägt Fußball den Streit um Tradition, Territorium und Identität. Unter den 24 EM-Teilnehmern trifft das besonders auf den Balkanstaat Nordmazedonien zu. Kann eine positive Erzählung des Fußballs nun zur Akzeptanz des neuen Landesnamens beitragen? "Das ist nicht nur für den Sport ein großer Erfolg, sondern auch für die Politik", sagt der mazedonische Sportwissenschaftler Ivan Anastasovski. "Unser Land ist in Trance. Für uns ist dies ein Moment, in dem wir unsere fragile Identität stärken können."

Dass viele Mazedonier von einer fragilen, brüchigen oder gar widersprüchlichen Identität sprechen, hat mit einem weit verbreiteten Gefühl der historischen Benachteiligung zu tun. Im 19. und lange auch im 20. Jahrhundert war Mazedonien nicht souverän, sondern wurde von umliegenden Mächten beansprucht, von Bulgaren, Griechen und Serben. Im Zweiten Weltkrieg besetzte Bulgarien seinen westlichen Nachbarn Mazedonien. "Der Fußball war dabei ein Spiegel für Konflikte und Gebietsansprüche, aber auch für Selbstbehauptung", sagt der britische Historischer und Balkan-Experte Richard Mills.

Im sozialistischen Jugoslawien war Mazedonien dann eine von sechs Teilrepubliken. Viele Fußballfans interessierten sich aber für Vereine anderer Regionen, für Roter Stern Belgrad oder Dinamo Zagreb. Im jugoslawischen Nationalteam mussten sich mazedonische Spieler mit Nebenrollen begnügen. Ab den 1980er Jahren verstärkten Fans mit Ausschreitungen die Sehnsucht nach ethnisch homogenen Einzelstaaten. In der mazedonischen Hauptstadt Skopje formierte sich beim wichtigsten Verein, dem FC Vardar, die Gruppe "Komiti", benannt nach Aufständischen im Osmanischen Reich.

Das Gefühl der Ausgrenzung vieler Mazedonier verstärkte sich 1986: Wegen Spielmanipulationen mussten zehn Vereine mit einem Punkteabzug in die Saison starten. Der FC Vardar gehörte nicht dazu und wurde erstmals jugoslawischer Meister. Der Zweitplatzierte Partizan Belgrad legte Einspruch ein und erhielt doch noch den Titel. "Viele Mazedonier fühlten sich von der Politik beraubt", erinnert der mazedonische Historiker Zdravko Stojkoski. Die Fangruppe "Komiti" betonte in der Folge noch stärker ihren christlichen, antikommunistischen Patriotismus.

Die Republik Mazedonien löste sich 1991 von Jugoslawien. Im Süden grenzt sie an eine Provinz von Griechenland, die den gleichen Namen trägt. Die Folge: Provokationen, Embargos, Abgrenzungsrituale. Und die mazedonischen Fans mischten mit: Der Anführer der "Komiti", Johan Tarčulovski, schloss sich der rechtskonservativen Partei VMRO-DPMNE an. Bald gehörte Tarčulovski zum Sicherheitsteam des mazedonischen Präsidenten. Um die Jahrtausendwende eskalierte der ethnische Konflikt zwischen Mazedoniern und Albanern. Mit einer paramilitärischen Einheit griff Tarčulovski im Jahr 2001 ein albanisches Dorf an, mehrere Menschen wurden getötet.

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag verurteilte Johan Tarčulovski als Kriegsverbrecher zu einer Haftstrafe. Nach seiner Freilassung 2013 wurde er in Skopje dennoch ins mazedonische Parlament gewählt. Seine Partei, die VMRO-DPMNE, stellte damals in der Regierung die antike Bedeutung des Namens Mazedonien heraus und zog eine Linie zum Feldherren Alexander dem Großen. Die Regierung ließ Statuen im Zentrum von Skopje errichten. Ein Flughafen und eine Autobahn werden nach Alexander dem Großen benannt, das Nationalstadion nach dessen Vater Philipp II. "Diese Neugestaltung sollte die nationalistische Ideologie sichtbar machen und Griechenland provozieren", sagt der mazedonische Sportreporter Ilcho Cvetanoski. An ein identitätsstiftendes Nationalteam war zu jener Zeit noch nicht zu denken.

Ab 2016 ging die neue sozialdemokratische Regierung auf Griechenland zu. Das Stadion in Skopje wurde nach einem Sänger umbenannt. Die Ultras von "Komiti" protestierten gegen die Kompromisse mit Athen, vor allem gegen die Namensänderung ihres Landes. Spekulationen machten die Runde, wonach der russische Investor Ivan Savvidis die Ultras finanziell unterstützt habe. Bekannt ist Savvidis als Eigentümer vom PAOK Thessaloniki, dem wichtigsten Klub der griechischen Region Mazedoniens. Bis 2011 saß Savvidis im russischen Parlament. Moskau wollte nicht, dass Nordmazedonien der Nato beitritt.

Seit der Änderung des Landesnamens ist die Lage ruhig. Doch es bestehen andere Konflikte. Rund 25 Prozent der mazedonischen Bevölkerung sind ethnische Albaner muslimischen Glaubens. Auch sie nutzen den Fußball politisch: Die Ultras des albanisch geprägten Vereins FC Skendija nennen sich "Ballistët", in Anlehnung an eine albanische Kampforganisation im Zweiten Weltkrieg. Einige von ihnen zeigen Flaggen von einem fiktiven Großalbanien. "Viele der orthodoxen Mazedonier identifizieren sich stark mit dem mazedonischen Nationalteam", erläutert der Sportwissenschaftler Ivan Anastasovski. "Die Muslime hier im Land halten eher zu den Nationalteams von Albanien und von Kosovo." Vielleicht ändert sich diese Haltung mit einem erfolgreichen Auftritt Nordmazedoniens bei der EM 2021.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5118228
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 18.11.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.