Nordische Kombination:Das Geheimnis des Zipfelbobs

Rydzek, Frenzel, Kircheisen, Rießle: Dass vier aus einem Land die WM-Plätze eins bis vier erringen, das gab es seit 1954 nicht mehr. Trainer Weinbuch hat aus Einzelkämpfern eine Einheit geformt.

Von Volker Kreisl, Lahti

Das vielsagendste Bild des Tages entstand exakt 32,2 Sekunden nach Zieleinlauf. Der Sieger hatte da schon sein schwarz-rot-goldenes Winkfähnchen abgelegt, der Zweite hatte ihm den Arm umgelegt, der Dritte lag erschöpft im Schnee, als der Vierte daherkam: Der hatte zuvor das Duell um Bronze verloren, enttäuscht ließ er die Ski auslaufen. Also kämpfte sich neben ihm noch der Japaner Akito Watabe heran und spreizte wild den rechten Fuß nach vorne, bloß: Es half nichts. Fabian Rießle aus Breitnau, der Watabe gar nicht mehr wahrnahm, war auch im Auslaufen schneller. Nach Platz eins, zwei und drei ging auch Rang vier an die Deutschen.

Eins bis vier bei einer WM - das wird in den einschlägigen Chroniken für eine Weile unerreicht bleiben, vielleicht sogar für immer. Im ersten Wettkampf von Lahti, in der Nordischen Kombination, hat Johannes Rydzek aus Oberstdorf gewonnen, Eric Frenzel wurde Zweiter, das war nach den Vorleistungen in diesem Winter noch vorhersehbar. Überraschender ist der Mann mit Bronze: Björn Kircheisen, mittlerweile 33, er war acht Jahre lang immer wieder an seiner Ungeduld gescheitert. Und dass auch der vierte WM-Platz ans selbe Team geht, das war zuletzt 1954 passiert, als man noch auf Holzlatten fuhr und die Norweger alles beherrschten.

Es wurde also heftig auf die Rücken geklopft, laut patschten Handschuhe aufeinander, und hier und da standen Tränen in den Augen. Und doch waren diese Szenen fast zu gewöhnlich. Solche Sieger-Gesten ruft der deutsche Wintersport serienmäßig hervor, hier aber ging es um die Krönung eines besonderen Projekts. Darum, einen zum Rennboliden getrimmten Mittelklassewagen unter Kontrolle zu bringen. Um die Aufgabe von Bundestrainer Hermann Weinbuch also.

Begonnen hatte dieser Tag wie immer mit dem Springen, der ersten der beiden Disziplinen. Das ist ein Teilbereich, in dem die Deutschen lange Probleme hatten, bis sie im vergangenen Sommer derart eifrig und individuell tüftelten, dass sie den anderen seitdem im Prinzip davonsprangen. Was sie genau gemacht hatten, ist eine lange Geschichte, kurz gesagt hatten sie sich von der Überlegenheit eines jungen Norwegers namens Jarl Magnus Riiber herausfordern, inspirieren und letztlich verbessern lassen. Erst sprang Riiber den Deutschen davon, dann erreichten sie dessen Niveau - und vor vier Wochen kugelte sich Riiber die Schulter aus, weshalb er nun fehlt.

Nordische Ski-WM Lahti

Auf und davon und am Ziel: Der Oberstdorfer Johannes Rydzek gewinnt Gold nach einem couragierten Sololauf im ersten Kombinations-Wettkampf von Lahti.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Die Konkurrenten aus Österreich, Norwegen, Japan, Frankreich und Finnland mussten schon auf eine plötzliche Windhose über der Schanze von Lahti hoffen, in dem Moment, in dem Weinbuchs Jungs gegen halb zwölf nacheinander dran waren. Aber der Himmel über Lahti blieb blau, und der Wind wehte sanft von vorne, er trug Frenzel und Rydzek auf die Plätze eins und zwei, und er trug Kircheisen und Rießle in komfortabelste Verfolgerpositionen im Feld dahinter. Was konnte da noch schiefgehen? Theoretisch viel.

Frenzel, heute 28, war schon damals der Beste im großen Neuaufbau des Teams Ende der Nullerjahre. Der erfahrene Kircheisen, eigentlich als Leitwolf ausersehen, kam mit ihm nicht mit, dafür tat sich der drei Jahre jüngere Rydzek bei der WM 2011 in Oslo als Silbergewinner erstmals hervor, im Schatten der beiden entwickelte sich später Rießle. Die Wettkampflust, die Suche danach, wer der Beste ist im ganzen Land, sie schaukelte sich hoch, und in Sotschi 2014 kochte der Topf mit dem Ehrgeiz erstmals über. Auf der Ziellinie stürmten Rießle, Rydzek und Kircheisen ins Ziel, verhakten sich und rempelten sich gegenseitig um. Olympia-Gold war verloren, Rießle holte Bronze, Rydzek lag stinksauer im Schnee.

Das war ein denkwürdiges Bild der anderen Art, und für Weinbuch blieb die Frage, wie er künftig diesen Konkurrenzkampf entfacht und gleichzeitig in die richtige Bahn lenkt. Und ob das überhaupt funktionieren kann: Sportler zu immer höheren individuellen Zielen zu führen und gleichzeitig zu einer Mannschaft zu formen? Gegner mit Teamgeist zu sein, mit wohl portioniertem Egoismus?

Die Möglichkeiten, etwas falsch zu machen, sind vielfach, wie die Presserunde am Tag vor dem Triumph zeigte. Da erklärte Weinbuchs Assistent Ronnie Ackermann, er wünsche Kircheisen im Herbst seiner Karriere, "dass der noch mal alle seine Stärken abrufen kann". Das war völlig harmlos gemeint, schließlich hat Kircheisen schon so viel geleistet - und war so oft an seinen Nerven gescheitert. 2009 holte er seine letzte WM-Einzelmedaille, und doch korrigierte Weinbuch: "Ich würde nicht von 'Wünschen' sprechen, denn was denken da die anderen, wenn wir einem speziell was wünschen?"

Nein, das gehe nicht, und deshalb werde während der Saison peinlich darauf geachtet, dass jeder das gleiche Maß an Aufmerksamkeit bekommt, und dass, sollte einer mal einen besser gewachsten Ski erwischen, was bei der Vielfalt der Wünsche reiner Zufall wäre, alles sofort geklärt wird. Und individuelle taktische Trainertipps an Rydzek und Frenzel, die beiden Topleute, die nun in Lahti vor einem weiteren Langlauf ihres Lebens standen, waren ohnehin tabu. "Die wissen mittlerweile selber, was sie zu tun haben", sagte Weinbuch.

Nordische Ski-WM Lahti

Luftsprünge vor der Schanze: Eric Frenzel, Johannes Rydzek und Björn Kircheisen (von links) feiern ihren Dreifach-Erfolg.

(Foto: Hendrik Schmidt/dpa)

Frenzel, Olympiasieger und mehrmaliger Weltmeister, ist der mit dem besseren Überblick über die Situation und für die richtige Entscheidung. Rydzek, der bei der WM in Falun/Schweden vor einem Jahr zwei Titel und vier Medaillen holte, erweist sich als immer stabiler. In Sotschi brauchte er Tage, bis er nicht nur aus dem Schnee wieder aufgestanden war, sondern auch mental wieder zu alter Stärke gefunden hatte. So etwas passiert ihm heute nicht mehr. In Seefeld hatte er sich kürzlich noch von Frenzel abhängen lassen, in Lahti entschied er die ewige Frage nach dem Besten schon nach der Hälfte des Rennens: Frenzel wirkte leicht müde, Rydzek lief ihm einfach davon.

Und Weinbuch, der Trainer, der zum Moderator wurde, steht nun vor einer glänzenden Ausgangsposition für diese WM, die ja gerade erst begonnen hat. Sein Team hat diesen ersten Tag, an dem sich schon viele Favoriten aus Angst vor der großen Bewährung selbst besiegt hatten, bestens überstanden. Drei weitere Wettbewerbe stehen noch aus, für die Aufstellung der Staffel am Sonntag (11 Uhr MEZ/ZDF und Eurosport) muss ein Trainer nach diesem Rennausgang nicht viel überlegen und erklären, denn eine Staffel besteht ja, genau: aus vier Leuten.

Es sieht so aus, als hätten sie Egoismus und die Fähigkeit zu Gönnen gut abgemischt. Während der WM-Vorbereitung in Oberstdorf sind sie nicht nur viel gesprungen und gelaufen, sondern auch zum Beispiel Zipfelbob gefahren, denn nicht nur ein Athlet unterliegt Formschwankungen, sondern auch der Teamgeist. Der Zipfelbob ist ein Allgäuer Schlitten, der schnell fährt, aber für den Spaß mussten sie alle erst einmal zu Fuß hinauf auf den Berg. Weinbuch stapfte hinterher und erinnert sich noch an das Bild. Eine Gruppe, sagt er, die sich nicht wirklich versteht, teilt sich auf oder geht hintereinander - "aber die? Die sind alle plaudernd nebeneinander hochgelaufen, den ganzen Anstieg."

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