Schon um 10 Uhr morgens steht der DJ am Pult im Pariser Vorort Stade de France, schon um 10 Uhr morgens sind über 60 000 Zuschauer auf den Rängen und feiern. Das sind gute Nachrichten auch für Noah Lyles. Der Sprinter ist für positive Schwingungen ziemlich empfänglich – und seine Systeme vermerken sofort eine Störung, wenn die Antennen keine Signale registrieren.
2021 in Tokio stand Lyles im olympischen Finale wegen der Corona-Pandemie in einem leeren Stadion, die Athleten wurden vorgestellt, aber da war kein Jubel, kein Getose, auch kein DJ. „Das macht keinen Spaß, das ist nicht cool, das ist nicht, was ich wollte“, ging es Lyles damals durch den Kopf. Paris, das kann man jetzt schon sagen, ist üppig ausgestattet für eine Überdosis Spaß.
Noah Lyles, 27 Jahre alt, ist ein Showman, der seine Bühne braucht. Auf seinen weiß lackierten Nägeln präsentiert er in Paris den blauen Schriftzug „Icon“, vielleicht auch, weil „Legend“ nicht auf fünf Finger passt. Aber klar, Ikonenstatus hat Lyles schon erreicht, vor allem durch die amerikanische Brille betrachtet: Netflix drehte eine Dokumentation mit ihm, das Time Magazine schmückte mit ihm unlängst sein Cover, kaum einer repräsentiert den amerikanischen Traum so wie er. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, zeigt Lyles, was trotz Widrigkeiten möglich ist: Drei Goldmedaillen hat er von den Weltmeisterschaften in Budapest im vergangenen Jahr erspurtet, über 100 Meter, 200 Meter und mit der Sprintstaffel – kann man sich noch besser in Startposition bringen für Olympische Spiele, fürs Finale über 100 Meter am Sonntag, einen der größten Hingucker? Lyles sagt: „Ich bin stärker als je zuvor.“
Die Suche nach dem schnellsten Mann der Welt führt immer auch in die Wesensforschung der Athleten. Vor allem deswegen, weil es nach Usain Bolt niemand mehr so recht schaffte, so bekannt zu werden, dass sich auch Zuschauer jenseits des Fachpublikums für ihn interessierten. Formte Usain Bolt mit den Armen einen Blitz oder je nach Interpretation die Geste eines Bogenschützen, formten Kinder in Berlin, London, Rio und natürlich in seiner Heimat Jamaika den Blitz oder den Bogenschützen. Bessere Werbung kann man gar nicht haben. Noch immer hält Bolt die Weltrekorde über 100 Meter (9,58 Sekunden) und 200 Meter (19,19); Strecken, die er meist aufreizend leicht aussehen ließ. Noch immer sind seine Fabelläufe unvergessen, wenn er mit offenem Schnürsenkel lief und sich noch vor der Ziellinie umdrehte. Das wurde, bei allen Zweifeln, die auch viele von Bolts Konkurrenten umrankten, bisher nicht übertroffen.
Vor Olympia waren andere schneller. Aber Lyles war zuletzt der Beste, wenn es zählte
In der Spezies der Sprinter ist Noah Lyles derjenige, der dieses Profil des „Rockstars“ (Weltverbandspräsident Sebastian Coe) noch am ehesten erfüllt. Aber das ist auch nur die halbe Wahrheit.
Als Lyles bei der Eröffnungsfeier mit dem Boot der US-Athleten über die Seine schipperte, nahm er für seine Fans ein Video auf. „Hier spricht Noah Lyles, der schnellste Mann der Welt“, spricht er in die Handykamera, sein Selbstbewusstsein kennt gerade keine Grenzen. Dabei ist der schnellste Mann der Welt in diesem Jahr noch ein anderer: Kishane Thompson, Jamaikas neue Hoffnung, führt die Jahresbestenliste mit 9,77 Sekunden an, vor dem Kenianer Ferdinand Omanyala (9,79) und Lyles (9,81). „Die Grenze zwischen Selbstvertrauen und Übermut ist so fließend, aber die meiste Zeit meines Lebens wurde mir gesagt: Das schaffst du nicht“, sagte Lyles zum Auftakt der Spiele in Paris. Deswegen sagt er sich jetzt das Gegenteil. Und klar, er hat in Budapest drei WM-Titel gewonnen, er hat unter hohem Druck schon bestanden.
Großmäuler hat es in seinem Sport schon etliche gegeben, doch Lyles’ Geschichte geht über seine Kampfansagen hinaus. Vielleicht passt er sogar besser in die heutige Zeit: Wo sich Usain Bolt unverwundbar präsentierte, spricht Lyles auch über die beschwerlichen Zeiten in seinem Leben. In seiner Kindheit in Florida machte ihm früh Asthma zu schaffen. „Es gab kaum Nächte, in denen ich nicht im Krankenhaus war und Medikamente bekam“, sagt Lyles in der Netflix-Doku. Das Geld in der Familie war oft knapp, da ging auch schon mal das Licht aus, weil eine Stromrechnung nicht bezahlt werden konnte.
Der Sport war sein Vehikel in ein besseres Leben. Nachdem sich die Eltern getrennt hatten, litt er zum ersten Mal unter Depressionen, die ihn auch als Erwachsenen heimsuchen. Die Verschiebung der Spiele in Tokio um ein Jahr aufgrund der Corona-Pandemie setzte ihm besonders zu, auch in Japan beschäftigte Lyles die Krankheit. Dreimal Gold hatte er sich vorgenommen, am Ende reichte es nur über 200 Meter zu Bronze. Die US-Sportler, die es jetzt nach Paris geschafft haben, bekamen eine Baseballcap von ihrem Verband, mit dem Schriftzug „Made it“ unter dem Schild, in etwa: Ihr habt es geschafft. „Ich habe sie seitdem quasi nicht mehr abgenommen“, sagt Lyles.
Die Augen im Finale von Paris am Sonntagabend werden auch auf Italiens Marcell Jacobs, den Olympiasieger von Tokio, und auf Lyles Teamkollegen Fred Kerley gerichtet sein, der 2022 in Eugene WM-Gold gewonnen hatte. Jacobs hatte im Olympiafinale seine Bestzeit um erstaunliche zwei Zehntelsekunden gesteigert, er brauchte dann – so haben es italienische Medien gezählt – 672 Tage, um wieder unter zehn Sekunden zu laufen. Seine früheren Kontakte zu einem Bodybuilder namens Giacomo Spazzini, gegen den Ermittlungen wegen illegalen Handels mit Steroiden liefen (letztlich ohne Sanktion), rückten seine Zeit schnell in ein anderes Licht. Im Juni in Rom reichten Jacobs 10,02 Sekunden, um den EM-Titel zu gewinnen. Wofür das in Paris reichen wird? Immerhin reichten seine 10,04 Sekunden einigermaßen locker fürs Finale.
Für Noah Lyles kann es ohnehin nur einen geben: Noah Lyles. „Ich lebe von den großen Momenten“, sagte er, bevor er zum ersten Mal ins Stadion eingelaufen war. Mit der Erfahrung der vollen Zuschauerränge vom Freitagmorgen lässt sich sagen: Der Moment dürfte tatsächlich groß werden. Gestalten muss er ihn nun selbst.