Niederlande nach dem Aus im EM-Achtelfinale:Oranje ist das neue Schwarz

Fußball EM - Niederlande - Tschechien

"Sie sollten sich schämen": Wenn man Stefan de Vrij so sieht (oder nicht sieht) - sie tun es.

(Foto: Robert Michael/dpa)

Bei den hoffnungsvoll gestarteten Niederländern ist die Ernüchterung nach dem Aus gegen Tschechien groß. Das Gesicht einer ratlosen Elf ist Frank de Boer. Doch der Bondscoach will erst den Kater überwinden, ehe er an Konsequenzen denkt.

Von Ulrich Hartmann, Budapest/München

Der Tiefflugverkehr über Zeist wird jetzt wieder etwas ruhiger. Das Aus bei der Europameisterschaft hat immerhin auch positive Seiten. In Zeist mitten in den Niederlanden unterhält der nationale Fußballverband KNVB sein Leistungszentrum. Wenn dort in den vergangenen Wochen die Oranje-Mannschaft trainiert hat, dann sind am Himmel immer wieder kleine Maschinen mit Banner-Botschaften aufgetaucht. Mal wurde der Bondscoach aufgefordert, zum 4-3-3-System zurückzukehren. Mal wurde er gebeten, den jungen Donyell Malen in die Startelf zu berufen. Mal wurden nur Wortspielchen gemacht: "Auf Wienerschnitzel!" etwa vor dem Sieg gegen die Österreicher.

Mittlerweile haben die Niederländer nichts mehr zu lachen. "Orange am Ende des Regenbogens", lautete auf Englisch einer der letzten luftigen Aphorismen. Jetzt ist Oranje am Ende, und hinter dem Regenbogen geht es vorerst nicht weiter.

Das blamabel anmutende 0:2 gegen Tschechien am Sonntagabend in Budapest bedeutete für die mit zuvor drei Siegen so hoffnungsvoll ins Achtelfinale vorgedrungenen Niederländer das unvermittelte Aus. Nach der verpassten EM 2016 und der verpassten WM 2018 wird nicht einmal die zur Therapie erkorene EM 2021 in guter Erinnerung bleiben. "Sie sollten sich schämen!", schrieb De Telegraaf über die Spieler und den Trainer Frank de Boer. Doch während die Spieler noch gebraucht werden für die Qualifikation zur WM 2022, ist eine weitere Zusammenarbeit mit dem 51 Jahre alten Trainer schwer vorstellbar.

Noch in der Arena nimmt die Inquisition ihre Arbeit auf

Die Niederlage gegen Tschechien war gerade mal eine Stunde alt, als im Bauch der Puskás-Arena die heilige Inquisition begann. Warum man erst einen Tag vor dem Spiel nach Budapest geflogen sei? Warum er stoisch am 5-3-2-System festgehalten habe? Warum er Malen ausgewechselt habe? Welche Fehler er bei sich selbst sehe? Ob er Bondscoach bleiben wolle? Was er vom Gespräch mit dem Verband erwarte?

Frank de Boer saß mit dem zerknittertsten Gesicht, das man sich vorstellen kann, in dieser virtuellen Pressekonferenz und dürfte bei der inneren Inventur kein wirklich gutes Argument gefunden haben, warum er Bondscoach bleiben sollte. Einen schnellen Rücktritt brauchte man freilich trotzdem nicht zu erwarten. "Heute haben wir alle einen Kater", sagte er allegorisch, "deshalb sprechen wir lieber später über die Zukunft."

So richtig ist ja tatsächlich nie klar geworden, warum der KNVB vor neun Monaten ausgerechnet de Boer für einen adäquaten Nachfolger des unvermittelt zum FC Barcelona gewechselten Ronald Koeman gehalten hat. Manchmal werden Menschen auch bloß deshalb Nationaltrainer, weil auf die Schnelle niemand anderes zu finden ist.

De Boer hatte sich in den vorangegangenen Jahren für dieses Amt jedenfalls nicht gerade aufgedrängt. Seine Referenzen waren mau. Als Innenverteidiger war er zugegebenermaßen einer der besten, die das Land hervorgebracht hat: fünf Mal Meister und 1995 Champions-League-Sieger mit Ajax Amsterdam sowie 1999 spanischer Meister mit dem FC Barcelona. Und auch als Trainer feierte er mit Ajax zunächst Erfolge: vier Meistertitel in Serie von 2011 bis 2014.

Laut José Mourinho ist de Boer der "schlechteste Trainer, den die Premier League je erlebt hat"

Doch damit endete der Erfolg des Trainers Frank de Boer auch schon. 2016 verspielte sein Ajax den Meistertitel am letztem Spieltag zugunsten der PSV Eindhoven. Das war eine Zäsur in seiner Karriere. Im November 2016 wurde de Boer bei Inter Mailand nach nur drei Monaten schon wieder entlassen und im September 2017 bei Crystal Palace nach nur zwei Monaten. José Mourinho nannte ihn im Rahmen eines medial ausgetragenen Streits damals "den schlechtesten Trainer, den die Premier League je erlebt hat".

Nach eineinhalb Jahren bei Atlanta United in der amerikanischen Soccer-League kehrte de Boer 2020 in die Niederlande zurück und wurde Ende September Nationaltrainer.

15 Länderspiele hat er seither betreut. Die Bilanz ist mit acht Siegen, vier Unentschieden und drei Niederlagen gar nicht mal schlecht. Doch die drei Niederlagen schlugen besonders emotional zu Buche: zum Auftakt eine 0:1-Niederlage im Test gegen Mexiko, dann im ersten Qualifikationsspiel zur WM 2022 im März eine 2:4-Niederlage in der Türkei und am Sonntag das zutiefst enttäuschende 0:2 gegen Tschechien.

Netherlands v Czech Republic - UEFA EURO, EM, Europameisterschaft,Fussball 2020 - Round of 16 - Puskas Arena Netherland

"Man kann mir die Schuld geben": Trainer Frank de Boer verlässt nach dem Aus den Platz in der Puskás-Arena.

(Foto: PA Images/Imago)

"Man kann mir die Schuld geben", sagte er kurz nach dem EM-Aus. "Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass die Spieler nicht ihr normales Level erreicht haben." Letzteres hat nämlich auch daran gelegen, dass Oranje trotz erfolglosen Anrennens gegen seriös verteidigende Tschechen keinen Kurswechsel vornahm, sondern sich 90 Minuten lang abnutzte. Dass der junge Malen in der 52. Minute eine Riesenchance zum 1:0 vergab, dass der junge Matthijs de Ligt kurz darauf Rot wegen Handspiels sah und dass die Tschechen in der 68. und 80. Minute zu ihren beiden Treffern kamen, war nicht direkt de Boers Schuld - doch den Gesamteindruck der Hilflosigkeit seiner Mannschaft muss er sich ankreiden lassen.

"Manchmal kann binnen einer Minute eine Welt zusammenbrechen", sagte de Boer über die kurze Phase der vergebenen Großchance und des Platzverweises. Und irgendwie hatte man das Gefühl, dass er sich mit diesem Satz vielleicht doch schon aus dem Amt verabschiedet hat.

Keine Flugzeug-Botschaften mehr am Himmel. Keine tanzenden Oranje-Massen mehr in den Städten. Keine inbrünstig gesungene Hymne. Die Niederländer werden der EM fehlen, aber es sind ihre Emotionen, nicht ihr mauer Fußball vom Sonntag.

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