Sogar Johan Cruyff ist jetzt beeindruckt. Das hätte er nämlich nicht für möglich gehalten, der Doyen der niederländischen Fußballlehre: dass man es mit dieser Mannschaft, mit dieser Taktik und - das vor allem - mit diesem Trainer in ein WM-Halbfinale schaffen kann. Und womöglich sogar Weltmeister werden - es wäre das erste Mal für die Niederlande.
Aber jetzt, vor dem Spiel gegen Argentinien, hat sich der 67 Jahre alte Cruyff tatsächlich ein Lob abgerungen: Er sei "angetan vom Teamgeist" bei den Niederländern, sagte er, und von ihrer Fähigkeit, enge Spiele zu gewinnen. Cruyff hat allerdings auch eine kleine Einschränkung hinterhergeschoben. "Mit dem Fußballspielen läuft es nicht so gut", mäkelte er. Das sei dann "eine schöne Aufgabe für den neuen Bondscoach".
Einem WM-Halbfinalisten vorzuwerfen, dass er alles kann, außer Fußball, zeigt wohl vor allem, dass Johan Cruyff vieles kann, außer Diplomatie. Allerdings ist der Vorwurf in Mode bei dieser WM, nicht nur in Bezug auf das niederländische Team. Als Louis van Gaal kürzlich gefragt wurde, was ihm zu den Argentiniern einfalle, sagte er: "Sie haben wenig Fußball gespielt."
Klares Erfolgsrezept
Womöglich gibt es ja trotzdem ein bisschen Fußball zu sehen am Mittwochabend in São Paulo (22 Uhr/ARD). Denn auch wenn die beiden Mannschaften das Spiel sicher nicht auf eine neue Ebene gehoben haben, wie man das etwa den Spaniern zugeschrieben hatte bei der WM 2010: Argentinien und die Niederlande haben beide ein klares Erfolgsrezept präsentiert.
Das von Argentinien bestand in den Zauberfüßen von Lionel Messi. Das der Niederlande bestand in der Zaubernase von Louis van Gaal, die ihm zu Hause den Ehrentitel "van Genial" eingebrockt hat. Und nun lautet also die zentrale Frage des Halbfinales: Was fällt Louis van Gaals Zaubernase gegen Lionel Messis Zauberfüße ein? Oder, wie es das Algemeen Dagblad formuliert: "Van Genial steht auf dem Weg zum ewigen Ruhm nun vor der Herausforderung Messi."
Tatsächlich hat van Gaal bei dieser WM eine fast unheimliche Serie richtiger Entscheidungen getroffen. Seine Fähigkeit, den Spielverlauf zu antizipieren und auf unvorhergesehene Entwicklungen zu reagieren, hat nicht zuletzt intern den Glauben in den 62-Jährigen weiter gestärkt. Arjen Robben sagt, er habe "noch nie einen Trainer gehabt, der so exakt vorhersehen konnte, was in einem Spiel passiert". Robben wird in München immerhin von Pep Guardiola trainiert. Dirk Kuyt findet van Gaal "einfach fantastisch, von der ersten bis zur letzten Sekunde ist er auf alles vorbereitet".
Als van Gaal vor dem Auftaktspiel gegen Spanien von jenem 4-3-3-System abwich, das in den Niederlanden als nationales Kulturgut verklärt wird, musste er sich von Cruyff und anderen Totalvoetbal-Heiligen nicht weniger als Verrat am niederländischen Fußballerbe vorwerfen lassen. Nachdem dieser Verrat in ein 5:1 gegen den Weltmeister Spanien gemündet war, schimpften die Denkmalschützer allerdings schon nicht mehr so laut.
Beim 3:2 gegen Australien wechselte van Gaal in Memphis Depay den Siegtorschützen ein, beim 2:0 gegen Chile gelang ihm das noch einmal, sogar doppelt: Er brachte Leroy Fer und erneut Depay, beide trafen. Beim 2:1 im Achtelfinale gegen Mexiko schickte van Gaal den bislang ignorierten Stürmer Klaas-Jan Huntelaar aufs Feld - der verwandelte in der Nachspielzeit einen Elfmeter. Und als es im Viertelfinale gegen Costa Rica zum Elfmeterschießen kam, setzte der Coach einen Geheimplan um und ersetzte den ahnungslosen Stammkeeper Jasper Cillessen durch den Ersatzmann Tim Krul. Der erschreckte die Costa Ricaner mit aggressivem Trash-Talk, sprang fünf Mal in die richtige Ecke und parierte immerhin zwei Schüsse.
Van Gaals Cleverness-Strähne
Im Fall eines Scheiterns hätte van Gaal sich zu Hause wohl nicht mehr blicken lassen müssen, er hätte dann am besten gleich seine Stelle bei Manchester United angetreten, wo er nach dem Turnier ohnehin übernimmt. Aber so: "Louis van Genial!" Doch kann diese Glücks-Strähne, die van Gaal selbst selbstverständlich als Cleverness-Strähne bezeichnen würde, ewig anhalten?
Analyse zu Niederlande vs. Argentinien:Präziser Robben, relaxter Messi
Niederlande gegen Argentinien, das heißt vor allem: Arjen Robben gegen Lionel Messi. Der Niederländer ist der gefährlichere Mann, wie die Statistik-Analyse vor dem Halbfinale beweist. Insbesondere, was die Schusssicherheit angeht.
Gegen Argentinien steht Louis van Gaal jedenfalls vor der Herausforderung, ein stabiles Bollwerk aufzubieten - unter erschwerten Bedingungen: Leroy Fer und Nigel de Jong sind verletzt, und auch der Innenverteidiger Ron Vlaar stieg in São Paulo mit einem Knieverband aus dem Flieger und fällt wohl aus. Als Ersatz stehen Terence Kongolo oder Joël Veltman bereit, die in Brasilien aber bisher nur wenige Minuten gespielt haben.
Womöglich zieht von Gaal daher auch Daley Blind in die Zentrale und sucht sich einen neuen Außenverteidiger: etwa den unermüdlichen Dirk Kuyt. Wobei es für Kuyt auch eine noch ehrenvollere Tätigkeit geben könnte: 90, vielleicht 120 Minuten Lionel Messi hinterherzulaufen und ihn in eine Art Manndeckung zu nehmen. Das wäre dann zwar schon sehr retro. Aber wenn es den Niederländern ein WM-Finale bescheren würde, könnte sich noch nicht mal der alte Cruyff beklagen.