Niederlande:Eine Runde weiter nach dem Purzelbaum

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Ständiger Gefahrenherd im Sturmzentrum: Die niederländische Rekordschützin Vivianne Miedema köpfelt den Ball auf Kameruns Tor. (Foto: imago)

Vivianne Miedema schießt den Europameister Niederlande ins WM-Achtelfinale: Die Rekord-Torjägerin steht im Zentrum der besten Angriffsreihe des Turniers.

Von Ulrich Hartmann, Valenciennes/München

Viele Fußballerinnen haben immer noch Fußballer zum Vorbild, auch Vivianne Miedema. Die Niederländerin schwärmt seit ihrer Kindheit für Robin van Persie, sie hat ein Selfie mit ihm, da ist sie noch ein kleines Mädchen. Der 35 Jahre alte van Persie hat vor einem Monat im Trikot von Feyenoord Rotterdam seine Karriere beendet, mit 50 Länderspieltoren ist er niederländischer Rekord-Torschütze - aber nur bei den Männern. Bei den Frauen ist es Vivianne Miedema, sie hat van Persie längst überholt. Mittlerweile hat sich offenbar auch die Schwärmerei umgedreht. Bei Twitter huldigte van Persie ihr am Samstag mit einer aus Fußbällen formierten 60. Denn Miedema, die die Niederlande beim 3:1-Sieg gegen Kamerun mit zwei Toren ins Achtelfinale der Weltmeisterschaft geschossen hat, hat nun insgesamt schon 60 Länderspieltore auf ihrem Konto. Sie ist U19-Europameisterin 2014, deutsche Meisterin 2015 und 2016, Europameisterin 2017, englische Meisterin 2019. Und das Erstaunlichste daran: Sie ist erst 22 Jahre alt.

Vor einer orangefarbenen Kulisse, die den Eindruck erweckte, das in der französischen Stadt Valenciennes ausgetragene WM-Spiel gegen Kamerun finde in Amsterdam statt, hatte Miedema ihre so genannten "Oranje Leeuwinnen" in einer zähen ersten Halbzeit 1:0 in Führung gebracht. Fünf Minuten vor Schluss schoss sie den Treffer zum 3:1. Normalerweise jubelt sie sehr dezent, diesmal machte sie aus gegebenem Anlass einen Purzelbaum - "Koprol", sagen die Niederländer. Miedema witzelte nachher, sie sei froh, dass sie sich dabei nicht verletzt habe. Denn die Mannschaft hat noch Einiges vor. Im Viertel- oder im Halbfinale könnte der Gegner schon Deutschland heißen.

2015 hatten sich die niederländischen Frauen zum ersten Mal für eine WM qualifiziert, die nach einer Niederlage gegen Japan aber im Achtelfinale schon wieder zu Ende war. Zwei Jahre später, bei der EM in heimischen Stadien, gewannen die orange gekleideten Löwinnen sensationell den Titel. Sie hoben den Frauenfußball in den Niederlanden damit auf eine neue Ebene. Zum Spiel nach Valenciennes in den Norden Frankreichs pilgerten am Samstag etwa 15 000 niederländische Fans. Obwohl die Leistungen in den ersten beiden WM-Spielen gegen Neuseeland (1:0) und Kamerun allenfalls mittelprächtig waren, träumt das Land vom großen Wurf. Zehn der elf Spielerinnen, die am Samstag gegen Kamerun die Startformation bildeten, standen schon 2017 im gewonnenen EM-Finale gegen Dänemark beim Anpfiff auf dem Platz. Die Trainerin Sarina Wiegman, seit Ende 2016 im Amt, setzt auf Stabilität. Sie führt eine goldene Generation.

Miedema steht im Zentrum einer der besten Angriffsreihen dieser WM. Rechts von ihr spielt mit Shanice van de Sanden (Olympique Lyon) eine der schnellsten Spielerinnen der Branche, links von ihr mit Lieke Martens (FC Barcelona) die Weltfußballerin des Jahres 2017. Martens spielte in der Saison 2012/13 für den Bundesligisten FCR Duisburg, Miedema von 2014 bis 2017 drei Jahre lang für den FC Bayern. Mit den Münchnerinnen wurde sie 2015 und 2016 deutsche Meisterin. Die Bundesliga ist immer wieder eine relevante Entwicklungsstation für die besten Niederländerinnen. Von den aktuellen WM-Teilnehmerinnen sind Lineth Beerensteyn und Jill Roord für Bayern München aktiv; Desiree van Lunteren spielt für den SC Freiburg. Jackie Groenen wechselt vom 1. FFC Frankfurt nun zu Manchester United, dafür kommt Dominique Bloodworth, gegen Kamerun Torschützin zum 2:1, im Sommer zum Meister VfL Wolfsburg.

Miedema spielt seit zwei Jahren für den FC Arsenal in London. Soeben wurde der Klub englischer Meister und seine Toptorschützin Miedema zur Spielerin der Saison gewählt. Robin van Persie hat seine 50 Tore einst in 102 Länderspielen geschossen, Miedema erzielte ihre 60 Treffer bei 77 Einsätzen - und sie hat noch mindestens zehn gute Jahre vor sich. Kein Wunder, dass sich die Fußballexperten in den Niederlanden einig sind, dass Vivianne Miedema in nicht allzu ferner Zukunft die 100-Tore-Marke knacken wird. Weil sie für ihre ersten 60 Tore aber nur sechs Jahre gebraucht hat, wird sie vermutlich noch viel, viel mehr schießen.

© SZ vom 17.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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