Niederlande bei der Fußball-WM:Ziemlich unholländisch

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"Habt ihr gesehen, was ich gemacht habe?": Louis van Gaal mit seinem wichtigsten Spieler, Arjen Robben. (Foto: REUTERS)

Bedingungslose Offensive war einmal: Die Niederlande treten bei der WM taktisch extrem flexibel auf, nun wartet Costa Rica im Viertelfinale. Für Trainer Louis van Gaal lohnt sich das Turnier jedoch auch im Fall eines Ausscheidens.

Von Boris Herrmann, Salvador da Bahia

"Habt ihr gesehen, was ich gemacht habe?", fragte van Gaal. Die Frage war an die versammelten WM-Berichterstatter, vor allem an jene aus den Niederlanden gerichtet. Deren Job besteht im Wesentlich darin, zu sehen, was van Gaal macht. Man konnte deshalb davon ausgehen, dass sie auch bei diesem Last-Second-Sieg im Achtelfinale gegen Mexiko hingeschaut hatten. Louis van Gaal erzählte es trotzdem noch einmal. Weil es so schön war.

"Wir haben drei verschiedene Systeme gespielt", sagte van Gaal. "Zuerst habe ich auf ein 4-3-3 umgestellt, dann bin ich zu Plan B übergegangen und ja, ich habe das in der Trinkpause gemacht, das war eine schlaue Art, von diesen Pausen zu profitieren." Überhaupt machte Van Gaal so viele Dinge, die sich im Nachhinein als schlau herausstellten, dass er sie gar nicht alle aufzählen konnte.

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Er setzte etwa den Stürmer Dirk Kuyt in seinem hundertsten Länderspiel erst als Linksverteidiger ein, dann als Rechtsverteidiger, dann als Stürmer. Er nahm auch seinen Kapitän Robin van Persie vom Platz, als es gerade spannend wurde und brachte Klaas-Jan Huntelaar, den er bis dahin sorgsam missachtet hatte.

Wenn all diese A-,B- und C-Pläne schiefgegangen wären, hätte man van Gaal selbstverständlich in der Luft zerrissen. Viel hat ja nicht gefehlt. Zwei Minuten vielleicht. Ausgleich Sneijder, Siegtreffer Huntelaar. Da konnten die niederländischen WM-Berichterstatter ihre fast schon fertigen van-Gaal-Nachrufe doch wieder in die Tonne treten. Bei De Telegraf stand wenig später: "Louis Genigaal".

Er findet sich immer noch gut und zeigt das auch

Über die Genialität dieses Wortspiels lässt sich streiten. Nicht aber darüber, dass die Niederlande am Samstag in Salvador zum Viertelfinale gegen Costa Rica antreten dürfen. Und dass Aloysius Paulus Maria van Gaal, Ritter von Oranien Nassau, 62, das mal wieder ziemlich gut hingecoacht hat. Auch wenn es natürlich genauso gut hätte schief gehen können.

Das Spiel der Niederlande gegen Mexiko war unter anderem deshalb so aufschlussreich, weil es zwei wichtige Erkenntnisse über den Bondscoach lieferte. Er ist, erstens, immer noch der Alte. Und er hat sich, zweitens, komplett erneuert. Unter den zahlreichen Bewunderern des Fußballlehrers Louis van Gaal gehört Louis van Gaal weiterhin zu den glühendsten Fans, daran hat sich nichts geändert.

Sein berühmtes Backstein-Lächeln, seine offen zur Schau gestellte Selbstherrlichkeit, kennen sie in Amsterdam so gut wie in Barcelona oder in München. Wen sie dort nicht so gut kennen, das ist der van Gaal, der sich anpasst, der jederzeit flexibel auf aktuelle Entwicklungen reagiert, der sich weniger nach dem richtet, was er glaubt als nach dem, was geschieht.

Bei Ajax, bei Barça, beim FC Bayern stand am Anfang eine Idee: offensiver Ballbesitzfußball, koste es was es wolle. Dieses Dogma hat van Gaal viel Anerkennung und einige Titel beschert, vor allem die Champions-League-Trophäe 1995 mit Ajax, aber es hat ihn wohl auch den einen oder anderen Titel gekostet. Was soll's, "es ist nicht gut zu gewinnen und dabei schlecht zu spielen", so dachte der alte van Gaal. Der neue van Gaal denkt so: "Man muss eine Mannschaft genauso spielen lassen, wie es ihren Qualitäten entspricht." Vielleicht wäre er noch beim FC Bayern, wenn ihm das früher eingefallen wäre.

Das System, das van Gaal in Brasilien spielen lässt, hat mit seinen ehemaligen Überzeugungen und vor allem mit Hollands heiß geliebtem Voetbal total noch viel weniger zu tun, als es die kleine taktische Zahlendreher von 4-3-3 zu 5-3-2 erahnen lässt. Zunächst einmal dreht sich das Spiel dieser Niederländer fast ausschließlich um Verteidigung (und um die Hoffnung auf die Sprints von Arjen Robben).

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Van Gaal hat sich das nicht gewünscht, es scheint vielmehr eine pragmatische Reaktion auf die schwere Verletzung von Spielmacher Kevin Strootman im März gewesen zu sein. Der Guardian berichtete über einem wegweisenden Besuch van Gaals und van Persies bei einem Ligaspiel von Feyenoord Rotterdam. Das Team operiert mit einer defensiven Fünferkette.

Van Gaal und van Persie sollen so begeistert gewesen sein, dass der Bondscoach umgehend bei seinem Vizekapitän Robben anrief, um ihn zu fragen, ob er sich solch einen Systemwechsel vorstellen könne. Robben konnte. Und es muss kein Zufall sein, dass vier Glieder der Fünferkette von Feyenoord nun auch im WM-Team mitwirken: Stefan de Vrij, Bruno Martins Indi, Daryl Janmaat und Terence Kongolo.

Mal abgesehen vom rauschenden Auftakt gegen Spanien, der aufgrund unvorhersehbarer Fußballwunder ein bisschen aus der Reihe fällt, sieht das holländische Spiel jetzt über weite Strecken ziemlich unholländisch aus. Es gibt keinen richtigen Spielmacher und die beiden Außen- verteidiger halten sich vornehm zurück, obwohl sie von drei Innenverteidigern abgesichert werden. Aber auch das scheint Teil der Strategie zu sein, die offensichtlich darin besteht, den Gegner erst einmal anrennen zu lassen - und ihn dann mit einem Systemwechsel zu überraschen. Wenn es sein muss, auch mit zwei.

45, 69, 56, das sind die Spielminuten, in denen van Gaal zuletzt den Flügelstürmer Memphis Depay einwechselte. Wenn der kommt (nur gegen Spanien kam er nicht), dann weiß man, dass van Gaal ein Tor braucht. Dann stellt er auf die alte Holland-Taktik um. Dann rollen die Angriffe über müde Gegner hinweg. Am Samstag wird es nicht zuletzt deshalb interessant, weil Costa Rica ebenfalls mit einer Fünferkette spielt. Neu-Holland gegen Neu-Holland.

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Am interessanten dürfte dieses Wochenende aber wieder einmal für Louis van Gaal werden, egal was passiert. Er ist ja in einer Doppelrolle in Brasilien unterwegs. Als Coach der Niederlande und als Chefscout von Manchester United. Dort soll er nach der WM eine neue Großmacht im Klubfußball aufbauen - die Kriegskasse ist prall gefüllt. Sollte seine jungen Nationalspieler sich bis zum Ende bewähren, wird man den einen oder anderen in der kommenden Saison im ManU-Trikot sehen.

Ansonsten greift Louis van Gaal eben bei den anderen Nationen zu. Er will Weltmeister werden in Brasilien. Aber wenn es nicht klappen sollte, dann wird er wenigstens nett einkaufen gewesen sein.

© SZ vom 05.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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