Niederlande bei der Fußball-WM:Offensiver Ballbesitzfußball, koste es was es wolle

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Bei Ajax, bei Barça, beim FC Bayern stand am Anfang eine Idee: offensiver Ballbesitzfußball, koste es was es wolle. Dieses Dogma hat van Gaal viel Anerkennung und einige Titel beschert, vor allem die Champions-League-Trophäe 1995 mit Ajax, aber es hat ihn wohl auch den einen oder anderen Titel gekostet. Was soll's, "es ist nicht gut zu gewinnen und dabei schlecht zu spielen", so dachte der alte van Gaal. Der neue van Gaal denkt so: "Man muss eine Mannschaft genauso spielen lassen, wie es ihren Qualitäten entspricht." Vielleicht wäre er noch beim FC Bayern, wenn ihm das früher eingefallen wäre.

Das System, das van Gaal in Brasilien spielen lässt, hat mit seinen ehemaligen Überzeugungen und vor allem mit Hollands heiß geliebtem Voetbal total noch viel weniger zu tun, als es die kleine taktische Zahlendreher von 4-3-3 zu 5-3-2 erahnen lässt. Zunächst einmal dreht sich das Spiel dieser Niederländer fast ausschließlich um Verteidigung (und um die Hoffnung auf die Sprints von Arjen Robben).

Van Gaal hat sich das nicht gewünscht, es scheint vielmehr eine pragmatische Reaktion auf die schwere Verletzung von Spielmacher Kevin Strootman im März gewesen zu sein. Der Guardian berichtete über einem wegweisenden Besuch van Gaals und van Persies bei einem Ligaspiel von Feyenoord Rotterdam. Das Team operiert mit einer defensiven Fünferkette.

Van Gaal und van Persie sollen so begeistert gewesen sein, dass der Bondscoach umgehend bei seinem Vizekapitän Robben anrief, um ihn zu fragen, ob er sich solch einen Systemwechsel vorstellen könne. Robben konnte. Und es muss kein Zufall sein, dass vier Glieder der Fünferkette von Feyenoord nun auch im WM-Team mitwirken: Stefan de Vrij, Bruno Martins Indi, Daryl Janmaat und Terence Kongolo.

Mal abgesehen vom rauschenden Auftakt gegen Spanien, der aufgrund unvorhersehbarer Fußballwunder ein bisschen aus der Reihe fällt, sieht das holländische Spiel jetzt über weite Strecken ziemlich unholländisch aus. Es gibt keinen richtigen Spielmacher und die beiden Außen- verteidiger halten sich vornehm zurück, obwohl sie von drei Innenverteidigern abgesichert werden. Aber auch das scheint Teil der Strategie zu sein, die offensichtlich darin besteht, den Gegner erst einmal anrennen zu lassen - und ihn dann mit einem Systemwechsel zu überraschen. Wenn es sein muss, auch mit zwei.

45, 69, 56, das sind die Spielminuten, in denen van Gaal zuletzt den Flügelstürmer Memphis Depay einwechselte. Wenn der kommt (nur gegen Spanien kam er nicht), dann weiß man, dass van Gaal ein Tor braucht. Dann stellt er auf die alte Holland-Taktik um. Dann rollen die Angriffe über müde Gegner hinweg. Am Samstag wird es nicht zuletzt deshalb interessant, weil Costa Rica ebenfalls mit einer Fünferkette spielt. Neu-Holland gegen Neu-Holland.

Am interessanten dürfte dieses Wochenende aber wieder einmal für Louis van Gaal werden, egal was passiert. Er ist ja in einer Doppelrolle in Brasilien unterwegs. Als Coach der Niederlande und als Chefscout von Manchester United. Dort soll er nach der WM eine neue Großmacht im Klubfußball aufbauen - die Kriegskasse ist prall gefüllt. Sollte seine jungen Nationalspieler sich bis zum Ende bewähren, wird man den einen oder anderen in der kommenden Saison im ManU-Trikot sehen.

Ansonsten greift Louis van Gaal eben bei den anderen Nationen zu. Er will Weltmeister werden in Brasilien. Aber wenn es nicht klappen sollte, dann wird er wenigstens nett einkaufen gewesen sein.

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