Nick Kyrgios in Wimbledon:Einer wie Boris Becker

Nick Kyrgios of Australia reacts during his men's singles tennis match against Rafael Nadal of Spain at the Wimbledon Tennis Championships, in London

Macht in Wimbledon Furore: der Australier Nick Kyrgios

(Foto: REUTERS)

Er ist erst 19 Jahre alt und die Nummer 144 in der Welt. Doch der Australier Nick Kyrgios schickt überraschend den Weltranglistenersten Rafael Nadal nach Hause. Manche Experten erinnert der Auftritt an den jungen Boris Becker.

Von Matthias Schmid

Es sind zu Beginn einer Karriere meist die unspektakulären Punkte, die noch mehr über die Begabung eines jungen Spielers aussagen als seine frühen Erfolge. Dass Nicholas Hilmy Kyrgios sogar ein hochbegabter Teenager ist, offenbarte deshalb nicht nur sein überraschender Viersatzsieg gegen den Weltranglistenersten Rafael Nadal im Achtelfinale von Wimbledon. Viel aussagekräftiger war ein verblüffender Schlag im zweiten Satz.

Beim Stand von 3:3 führte Nadal bei eigenem Aufschlag 40:0. Der Spanier spielte eine Vorhand in die Mitte des Feldes, Nick Kyrgios hatte sich schlecht bewegt, er hätte den Punkt einfach abschenken können, weil das Spiel sowieso schon entschieden war.

Doch der 19-Jährige probierte stattdessen einen Kunstschlag, den man eigentlich nur im Training zeigt, wenn man im Leichtsinn verrückte Dinge ausprobiert, irre Schläge, um seine Kreativität ausleben zu können, Kyrgios spielte die Vorhand also nicht seitlich, sondern von hinten durch die Beine - sein Ball flog unerreichbar für Nadal ins Feld. Kyrgios ließ sich vom Publikum feiern.

Dieser Australier aus Canberra taugt wirklich für die großen Bühnen, er bietet mitreißendes Tennis. Und er ist ein Mann, der auffällt. Eine imposante Erscheinung. 1,93 Meter groß mit gewaltigem Aufschlag und Grundschlägen, die so wuchtig sind, dass sie Löcher im Rasen hinterlassen. 70 Bälle, darunter 35 Asse, konnte der laufstarke Nadal gar nicht mehr berühren. Außerdem ist Kyrgios mit einer großen Portion Selbstbewusstsein gesegnet, wie schon seine autobiografische Beschreibung für sein Twitter-Profil erkennen lässt: "Stolzer griechisch-malaysisch-australischer Tennisprofi aus Canberra, ehemalige Nummer eins der Junioren und jetzt auf dem Weg, die ATP-Tour zu erobern."

Doch sein Sieg gegen Nadal kam auch für ihn so überraschend, dass er hinterher ziemlich erschrocken auftrat und erst einmal nach Worten suchen musste. "Es ist noch nicht wirklich in mein Bewusstsein eingesunken", sagte er anschließend: "Ich spielte wie im Rausch. Ich bin jetzt noch total durcheinander." Es war nicht nur irgendein Sieg eines Außenseiters, es war ein Sieg, der in die Tennishistorie eingehen wird, weil erstmals seit 22 Jahren wieder ein Spieler außerhalb der Top 100 den Führenden in der Weltrangliste aus dem Turnier katapultierte. Zuletzt war das Andrej Olchowsky 1992 in der dritten Runde in London gegen Jim Courier vergönnt gewesen.

29 Jahre nach dem Wimbledon-Triumph eines 17-jährigen Leimeners mit dem Namen Boris Becker könnte sich beim berühmtesten Tennisturnier der Welt eine ebenso wundersame Überraschung anbahnen. Viele, die damals schon dabei waren, können Parallelen erkennen. Auch Becker bewegte sich damals ein paar Mal am Rande einer Niederlage, ehe er doch noch Historisches vollbrachte.

Trainingswoche mit Roger Federer

Kyrgios wehrte in der zweiten Runde gegen den an Nummer 13 gesetzten Franzosen Richard Gasquet sogar neun Matchbälle ab, um am Ende die Partie doch noch 10:8 im fünften Satz für sich zu entscheiden. Nach seinem mitreißenden Sieg gegen Nadal hält der ehemalige Wimbledonsieger und heutige TV-Kommentator John McEnroe sogar den Turniersieg Kyrgios' für möglich. "Der letzte junge Spieler, bei dem ich das glaubte, war Boris Becker", sagte der Amerikaner.

Nur mit einer sogenannten Wildcard hatte Kyrgios Zugang zum erlesenen Kreis in Wimbledon erhalten. Seine Weltranglistenposition von 144 ist zu niedrig, um im Hauptfeld mitspielen zu dürfen. Doch er kennt das Gefühl, einen Pokal in den Londoner Himmel recken zu dürfen. Im vergangenen Jahr gewann er an der Seite seines Landsmannes Thanasi Kokkinakis den Doppelwettbewerb bei den Junioren. Doch das Männertennis unterscheidet sich stark, es ist fast eine andere Sportart. Viele talentierte Spieler, auch Grand-Slam-Gewinner bei den Junioren, sind an dem Übergang gescheitert.

Kyrgios scheint ein Teenager zu sein, dem dieser Übergang mühelos zu gelingen scheint. Auf dem Radar war er schon vor Wimbledon aufgetaucht. Der Schweizer Roger Federer beispielsweise hatte ihn im Mai dieses Jahres zu einer gemeinsamen Trainingswoche nach Zürich eingeladen, die Kyrgios hinterher als "epische Erfahrung" beschrieb. Es ist nicht überliefert, wie viele Sätze der junge Australier gegen den 17-maligen Grand-Slam-Turniersieger gewinnen konnte, aber nicht nur Gasquet sieht in ihm schon "einen kommenden Majorsieger".

Es ist erstaunlich, wie ruhig und konzentriert er in den entscheidenden Momenten gegen Nadal geblieben ist. Ihm scheint das da draußen alles gar nichts anzugehen, überhaupt nicht zu beeindrucken. "Ich habe einfach Punkt für Punkt gespielt und von Beginn an daran geglaubt, dass ich gegen ihn gewinnen kann", sagte Kyrgios, der vor einem Jahr in der Weltrangliste noch auf Rang 843 gelistet war.

Den größten Erfolg seiner bisherigen Karriere feierte er mit einem Tänzchen, das jedoch ein bisschen unbeholfen wirkte. Er kann ja noch weiter an seinem Hüftschwung arbeiten. An diesem Mittwoch spielt er im Viertelfinale gegen den kanadischen Weltranglistenneunten Milos Raonic, ebenfalls ein exzellenter Aufschläger, der es zudem versteht, von der Grundlinie ziemlich hart auf den Ball einzuschlagen. Ob er seiner Mutter vor dieser Partie ein Interviewverbot auferlegt hat, wollte Nick Kyrgios nicht verraten. Sie hatte nämlich in der Runde davor öffentlich mitgeteilt, dass Nadal viel zu gut für ihren Sohn sei. "Ich war darüber ein bisschen verärgert", gab der 19-Jährige zu. Er lächelte.

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