Eishockey:"Das fühlt sich wie Versagen an"

Eishockey: "Ich muss Verantwortung übernehmen; ich war heute einfach nicht gut", sagt Leon Draisaitl (rechts) nach der Niederlage gegen die Vegas Golden Knights.

"Ich muss Verantwortung übernehmen; ich war heute einfach nicht gut", sagt Leon Draisaitl (rechts) nach der Niederlage gegen die Vegas Golden Knights.

(Foto: Stephen R. Sylvanie/USA Today Sports/Reuters)

Die Edmonton Oilers verlieren im Viertelfinale der NHL-Playoffs gegen die Vegas Golden Knights. Der deutsche Stürmer Leon Draisaitl kämpft danach mit den Tränen - und mit der Frage, ob er jetzt zur WM nachreist.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wer Leon Draisaitl in diesem Moment sah, der wusste, dass es vorbei war. Kein Eishockeyspieler, der gewinnen wird, fährt so übers Eis. Wer gewinnen wird, skatet dem Puck hinterher wie William Karlsson von den Vegas Golden Knights - als wäre das Spielgerät aus purem Gold. Draisaitl war direkt hinter Karlsson, doch er drückte sich nicht mehr ab nach vorne. Ein Erkennungszeichen des deutschen Stürmers bei den Edmonton Oilers ist es ja, seinen Kopf ein wenig nach vorne zu schieben wie ein Panther auf der Pirsch, doch nun richtete er sich komplett auf. Er glitt wie eine Statue über Eis und sah Karlsson zu, wie der den Puck ins leere Tor schob.

5:2 für Vegas und damit 4:2 in der Best-of-seven-Viertelfinalserie in der nordamerikanischen Profiliga NHL. Die Oilers sind raus, obwohl sie noch vor ein paar Tagen als heißer Titelkandidat gegolten hatten.

"Es tut weh", sagte Draisaitl danach, er kämpfte mit den Tränen. "Wenn du zu Beginn der Saison daran glaubst, dass du den Titel holen kannst, und das durften wir zu Recht glauben, dann fühlt sich das wie Versagen oder ein verschwendetes Jahr an."

Die Frage, wie das passieren konnte, ist nicht die einzige, auf die Draisaitl nun eine Antwort finden muss. Sondern auch darauf, ob er gleich die nächste große Aufgabe in Angriff nehmen kann, nämlich die Nationalmannschaft zu verstärken, die gerade in Tampere/Finnland bei der WM ums Weiterkommen kämpft. Dass er dazu Kraft und Zeit aufbringen kann, ist keineswegs selbstverständlich. Der Deutsche Eishockey-Bund bemüht sich zwar um den besten deutschen Spieler. DEB-Sportdirektor Christian Künast sagte am Sonntag, man werde sich nach einem eventuellen Aus der Oilers umgehend mit Draisaitl und seinem Klub in Verbindung setzen. An der Versicherungssumme solle es nicht scheitern, auch nicht daran, dass er wohl frühestens zum Wochenende käme, eine Lizenz halten sie ihm sowieso offen: "Ein Leon Draisaitl würde sich immer lohnen", sagte Künast, "auch für ein Spiel." Und doch, dass Draisaitl wirklich in Tampere eintrifft, bleibt unwahrscheinlich.

Wichtig wäre es zunächst, die absurde Niederlage im NHL-Playoff abzuhaken. Letztlich war diese sechste Partie, als hätte man die erste Szene des Woody-Allen-Tennis-Thrillers "Match Point" als Eishockey-Tragödie inszeniert. Im Film touchiert ein Tennisball das Netz, es ist unklar, ob er auf die eine oder die andere Seite tropfen wird; zu hören ist eine Stimme: "Der Mensch, der sagte, Glück sei wichtiger als Können, hatte ein tiefes Verständnis vom Leben. Die Menschen haben Angst davor einzusehen, welch große Rolle im Leben der Zufall spielt - weil es beängstigend ist zu erkennen, wie wenig man tatsächlich kontrollieren kann."

Der erste Vegas-Treffer: Der Puck gleitet aus einem Gerangel im Eck wie an der Schnur gezogen zu Stürmer Reilly Smith, der aus kurzer Distanz unbedrängt einschießen kann. Zweites Vegas-Tor: Abpraller vom Schlittschuh eines Oilers-Akteurs, Jonathan Marchessault staubt ab. Dritter Vegas-Treffer: Oilers-Torwart Stuart Skinner wehrt einen Schuss ab, der Puck fliegt beinahe senkrecht nach oben und landet - wie der Tennisball in "Match Point" auf der Netzkante - auf der Torlinie; Marchessault drückt ihn über die Linie.

Nach den ersten beiden Partien dieser Serie hatten alle Draisaitl gefeiert

Natürlich ist es im Leben wichtig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, und Eishockey ist ein Sport, bei dem es besonders darauf ankommt, so viele Richtige-Zeit-Rechter-Ort-Momente zu kreieren und dann auch zu nutzen. Das haben die Golden Knights getan, sie haben sich diesen Einzug ins Playoff-Halbfinale redlich verdient. Es soll vielmehr ausdrücken, wie frustrierend dieser Abend und damit das Scheitern für die Oilers sein muss: Sie haben sich zahlreiche Chancen erspielt, sie haben fast doppelt so oft aufs Tor geschossen wie der Gegner (40:22) - und doch 2:5 verloren.

Es gehört auch zu den Eigenheiten des Profisports, dass sich Beobachter angesichts der wundersamen Dinge im Kleinen (diese drei Vegas-Treffer in Spiel sechs) und im Großen (wie die Oilers innerhalb weniger Wochen vom Playoff-Wackelkandidaten zum Titelfavoriten wurden und im Viertelfinale scheitern) nicht verblüfft am Kopf kratzen, sondern erklären, warum das ganz genau so hatte passieren müssen.

Auch bei Draisaitl: Den hatten nach den ersten beiden Partien dieser Serie alle gefeiert; er hatte sechs Treffer erzielt und hatte mit 13 Toren in nur acht Playoff-Partien die Chance, einen fast 50 Jahre alten Rekord (19 Treffer, Reggie Leach im Jahr 1976 für die Philadelphia Flyers) einzustellen oder gar zu übertreffen. Nun, nach einer Vorlage und keinem Tor in den letzten vier Partien, gab ein Spaßvogel bei Twitter eine Vermisstenanzeige für ihn auf. So ist das, und Draisaitl sagte selbst: "Ich muss Verantwortung übernehmen; ich war heute einfach nicht gut."

Man kann vortrefflich darüber debattieren, ob Oilers-Trainer Jay Woodcroft Draisaitl und seinen kongenialen Sturmpartner Connor McDavid (acht Treffer und zwölf Vorlagen in diesen Playoffs) öfter gemeinsam aufs Eis hätte schicken sollen oder in getrennten Sturmreihen. Man könnte Vermisstenanzeigen aufgeben für Derek Ryan, Evander Kane und natürlich Ryan Nugent-Hopkins, dem nach 104 Scorerpunkten in der regulären Saison (37 Tore, 67 Vorlagen) nur ein Playoff-Tor gelang. Man kann debattieren, warum die Oilers Torwart Jack Campbell 5,5 Millionen Dollar im Jahr bezahlen - und ihn gegen Vegas drei Mal für den glücklosen Stuart Skinner einwechseln, anstatt ihn zum Beispiel bei der sechsten Partie beginnen zu lassen. Der erste Vegas-Treffer war nämlich auch: ungeschicktes Klären von Skinner, deshalb kam es überhaupt erst zum Gerangel in der Ecke.

Das sind freilich die ersten Reflexe nach diesem Scheitern - gerade weil die Oilers gut drauf waren in den Playoffs und so mancher Favorit (Boston Bruins, Colorado Avalanche) schon in der ersten Runde gescheitert war. Genau davor aber hatte Draisaitl vor der Serie gegen Vegas beim Treffen mit der SZ gewarnt: "Es gibt diese heftigen Auf-und-Ab-Schwingungen. Du kannst so was nicht steuern und dich auch nicht vorbereiten. Du musst damit umgehen." Das ist Vegas besser gelungen in dieser Serie.

Eine andere Lesart dieser Oilers-Saison ist nämlich: Sie haben eine richtig gute Mannschaft; die Weltklasse-Stürmer Draisaitl und McDavid waren noch ein bisschen besser; und sie sind noch drei Jahre lang vertraglich an die Oilers gebunden. Sie haben da was in Edmonton und müssen sich nur punktuell verbessern, auf der Torwartposition etwa. Sie sind grundsätzlich am richtigen Ort, den Titel zu gewinnen.

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