Süddeutsche Zeitung

Eishockey-Torwart Philipp Grubauer:Der Prophet der Paraden

NHL-Profi Philipp Grubauer absolviert nach drei schwierigen Spielzeiten die beste Saison seiner Karriere - weil er immer schon dort ist, wo der Puck sein wird. In den Stanley-Cup-Playoffs hilft ihm auch bajuwarische Gelassenheit.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Langsam fuhr Philipp Grubauer nach der Partie aus seinem Tor; wie einer, den man anschieben will, weil er es nicht aus eigener Kraft schafft. Erschöpfung war allerdings nicht der Grund, eher eine Mischung aus Enttäuschung und Neugier. Der Torwart von Colorado Avalanche blickte lange nach oben zur Videoleinwand, er wollte sehen, wie in aller Welt sein Team diese fünfte Playoff-Partie gegen die Vegas Golden Knights noch hatte verlieren können.

Grubauer sah, wie Vegas-Flügelstürmer Mark Stone den Puck bekam und an ihm vorbeischlenzte. Der Siegtreffer entstand aus einem Angriff Colorados heraus und hätte symbolischer kaum sein können: 2:0 hatte Colorado nach zwei Abschnitten geführt und trotzdem 2:3 nach Verlängerung verloren. 2:0 hatten sie in der Best-of-seven-Serie geführt, nun liegen sie 2:3 zurück. Als Grubauer das Eis verließ, war es nach drei Stunden Jubel und Trubel mucksmäuschenstill.

"Gruuuuuuu!" So brüllen die Avalanche-Fans stets, wenn Grubauer einen Schuss hält; das Ausmaß der Begeisterung ist an der Länge des "U" zu erkennen. Sportler mögen es grundsätzlich, wenn die Leute ihren Namen (oder eine Kurzform) rufen, in diesem Fall jedoch schwang etwas Negatives mit: Jedes "Gruuuuuuu!" bedeutete, dass Vegas schon wieder aufs Tor geschossen hatte, und bislang gab es in dieser Serie viel zu viele Rufe, die das "U" enthielten. Grubauer musste viel zu viele Paraden hinlegen; das Schussverhältnis derzeit: 169:130 für Vegas, und darin ist das Ausreißer-7:1 (37:25 Schüsse) für Colorado der ersten Partie enthalten. Seitdem: 144:93 für Vegas.

Was Grubauer auszeichnet: Gewissenhafte Arbeit und bajuwarische Gelassenheit

Dass es nur 2:3 steht, das liegt vor allem an Grubauer. Er ist der Rückhalt dieses Teams, das in der regulären Saison die meisten Punkte (82) geschafft hatte. Während der Corona-Pandemie sind die Playoffs regional aufgeteilt, Colorado spielt bereits im Viertelfinale gegen Vegas, das ebenso viele Punkte geholt hatte. Es ist eine packende, hochklassige Serie, kleine Details dürften über den Sieg entscheiden. Und das hat wiederum viel mit dem bayerischen Torwart zu tun, der einer der drei Finalsten bei der Wahl zum besten Schlussmann dieser NHL-Saison ist.

Denn Grubauer spielt eine fantastische Saison. "Einen wie ihn habe ich noch nie gesehen", sagt Darren Hersh; er bildet seit 26 Jahren Torhüter aus, derzeit ist er Jugendkoordinator des US-Verbands. Vor neun Jahren war er Torwarttrainer der Reading Royals, und zu denen hatte das NHL-Team aus Washington den jungen Grubauer geschickt. Eine Geschichte über Grubauer erzähle er jungen Spielern noch heute, sagt Hersh: "Bei Beweglichkeitsübungen ist Grubauer immer ein paar Zentimeter weiter gegangen als alle anderen. Das klingt nicht nach viel, macht auf diesem Niveau allerdings den Unterschied aus: Er arbeitet immer ein wenig mehr als die anderen, selbst wenn er schon der Beste ist."

Grubauer reagiert blitzschnell. Hersh glaubt zudem, dass er den legendären Wayne-Gretzky-Spruch ("Ich gehe nicht da hin, wo der Puck ist - sondern dahin, wo er sein wird.") auf Torhüter umgewandelt hat. Grubauer ist aufgrund seiner Beweglichkeit, seiner gewissenhaften, stundenlangen Spielanalysen und seiner bajuwarischen Gelassenheit in der Lage, Situationen besser zu erahnen und dann dort zu sein, wohin der Puck kommen wird.

Wenn andere im Hotelzimmer relaxen, setzt Grubauer schon mal die Virtual-Reality-Brille auf

"Analysieren und anpassen", sagt Grubauer über sich: "Kleine Schritte über Jahre hinweg." Die vergangenen drei Spielzeiten waren schwierig für ihn. Er hatte 2018 den Stanley Cup mit Washington gewonnen, während der Playoffs war er allerdings auf die Bank verbannt worden. Es folgte der Wechsel nach Colorado, in der vergangenen Saison verletzte er sich zu Beginn der Ausscheidungsrunde, Avalanche verlor in der zweiten Runde das entscheidende Spiel nach Verlängerung.

Das führt zu einem zweiten Experten, der Grubauers erstaunliche Übersicht erklären kann. Bob Tetiva ist der Gründer der Virtual-Reality-Firma Sense Arena. Deren Programm erlaubt es Torhütern, über Oculus-Brillen zu trainieren. Die NHL-Teams Colorado Avalanche, Vegas Golden Knights, Los Angeles Kings, Arizona Coyotes und New Jersey Devils verwenden es, und ein Video von Grubauer beim Training im Oktober vergangenen Jahres verbreitete sich rasch im Internet. Es ist kein Hexenwerk, keine Matrix-Methode; es geht darum, an der Hand-Augen-Koordination feilen zu können, ohne gleich in voller Montur aufs Eis zu müssen und eine Überbelastung oder gar Verletzung zu riskieren. "Philipp spielt damit nicht rum, er arbeitet wirklich damit", sagt Tetiva. Wenn andere im Hotelzimmer relaxen, setzt Grubauer schon mal die Virtual-Reality-Brille auf, so wie er damals bei den Reading Royals immer ein paar Zentimeter weiter gefahren ist als die anderen.

Es sind diese Details, die Grubauer zu einem der besten Torhüter der Welt haben werden lassen. Und genau den brauchen sie in Denver auch, weil einer der anderen Finalisten für die Vezina Trophy der Vegas-Schlussmann Marc-Andre Fleury ist, dem am Dienstag ein kleiner Fehler unterlief - der sogleich mit einem Gegentor bestraft wurde. Es wird auf diese Kleinigkeiten ankommen in dieser Serie, das sechste Spiel findet am Donnerstag in Las Vegas statt, die entscheidende siebte Partie (falls Colorado gewinnt) wäre am Samstag in Denver. Grubauer, 29, hätte sicher nichts gegen ein paar "Gruuuuuuu"-Rufe. Was schlimmer wäre: Stille.

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