Es passiert etwas mit Leon Draisaitl in diesem Moment, und es ist tatsächlich unglaublich, dass eine Kamera dabei ist, die das alles einfängt. Die Eishockeyprofis der Edmonton Oilers betreten nach der Partie gegen die Florida Panthers die Umkleidekabine. Im Hintergrund verkündet der Hallensprecher, dass Kollege Connor McDavid zum wertvollsten Spieler der Finalserie gewählt worden ist. Die Oilers haben die entscheidende siebte Partie in der Finalserie um den Stanley Cup 1:2 verloren, ein Törchen hatte bei ungefähr 15 Chancen zur Verlängerung gefehlt.
McDavid hat aber so gar keine Lust, sich die individuelle Trophäe abzuholen. Er zieht sein Trikot aus, setzt sich hin – dann beginnt er zu heulen, die Hand von Draisaitl auf dem Oberschenkel; und man sieht, dass Draisaitl nicht nur mit seinem Kollegen trauert, sondern nachdenkt. Dass er ganz bewusst wahrnimmt, was in diesem Moment passiert, auch mit ihm.

Neuer NHL-Vertrag:Leon Draisaitl erhält, was er wert ist
Der deutsche Eishockeyspieler verlängert seinen Vertrag beim NHL-Team in Edmonton – für ein fantastisches Gehalt. Doch er geht diesen Schritt auch aus Loyalität zu dem Klub.
Niemand außer den Allerbesten in einer Disziplin kann sich vorstellen, wie das ist: wenn man so erfolgreich ist wie nie zuvor (McDavid und Draisaitl hatten in neun gemeinsamen Jahren noch nie die Finalserie erreicht) – und dies der traurigste Moment der Karriere, vielleicht des Lebens ist. „Ich glaube nicht, dass der normale Fan diese Momente verstehen kann“, erzählt McDavid in der sechsteiligen Serie „Faceoff: Inside the NHL“, die derzeit auf dem Streaming-Portal Amazon Prime zu sehen ist. Die Doku beginnt mit diesem Moment, sie endet aber nicht damit, sondern mit Bildern von McDavid und Draisaitl im Kraftraum: Vorbereitung auf die neue Saison in der National Hockey League (NHL), die für die Oilers an diesem Mittwoch mit einem Heimspiel gegen die Winnipeg Jets beginnt.
Draisaitls 112-Millionen-Dollar-Vertrag ist auch ein Zeichen an den Teamkollegen McDavid
„Ich freue mich jetzt, dass diese Plackerei wieder losgeht“, sagte Draisaitl am Montag beim Telefonat mit Reportern aus der Heimat: „Es hat lange Zeit geschmerzt, doch so sehr es auch wehtut: Das Leben geht weiter.“ Für Draisaitl hatte sich indes auch die Frage gestellt, wo es das tun würde. Da gibt für Sportler nur zwei Möglichkeiten nach Enttäuschungen – und man sollte nicht vergessen, dass die Oilers als erst drittes Team in der NHL-Geschichte einen 0:3-Rückstand in der Finalserie aufgeholt hatten, um dann doch alles zu verlieren.
Die erste Möglichkeit also: weg von diesem Ort. Draisaitls alter Vertrag in Edmonton lief bis zum vergangenen Sommer zwar noch ein Jahr, doch war klar, dass die Oilers entweder langfristig mit ihm verlängern oder über ein sofortiges Tauschgeschäft versuchen dürften, wenigstens ein bisschen Gegenwert zu erlösen, ehe Draisaitl im kommenden Sommer frei würde wechseln können. „Die Oilers waren immer die erste Wahl“, sagt er nun über die Franchise, für die er seit Beginn seiner Profikarriere vor zehn Jahren spielt: „Aber natürlich steht bei Verhandlungen ein Wechsel immer im Raum.“ Die Boston Bruins zum Beispiel waren brennend interessiert.

Draisaitl verlängerte dann, und auch wenn ihn der neue Vertrag mit den Oilers (112 Millionen Dollar für acht Spielzeiten) zum bestbezahlten Eishockeyprofi der Welt macht, ist die Botschaft eine andere – und zwar auch an Connor McDavid, also jenen Typen, den Draisaitl in der Umkleide hat trauern sehen und der im kommenden Sommer vor der gleichen Entscheidung stehen wird wie er in diesem: verlängern oder wechseln.
Draisaitls Botschaft ist somit die zweite Variante des Umgangs mit Enttäuschungen: der Jetzt-erst-recht-Trotz, der so vielen Sportlern beim Überqueren der Ziellinie ins gelobte Land geholfen hat. „Es gibt keinen zusätzlichen Druck wegen des Vertrags. Es ist eher Ausdruck der Wertschätzung, und ich glaube, dass ich mir die verdient habe“, sagt Draisaitl. Das stimmt gewiss: Inklusive Playoffs hat er in 793 NHL-Partien 958 Scorerpunkte gesammelt, er ist damit bereits jetzt einer der besten Angreifer der Ligageschichte. „Es nimmt den Druck eher“, sagt er: „Ich weiß jetzt, wo ich sein werde. Ich weiß, was ich verdienen werde.“
Und er weiß, dass er mit den Oilers den Stanley Cup gewinnen kann. McDavid ist noch immer da und ist ebenfalls mit Jetzt-erst-recht-Trotz erfüllt: „Eines Tages, wenn wir diese Trophäe in die Höhe recken werden, werden wir auf diesen Moment deuten und sagen: ‚Das war es alles wert!‘ Niemand will den Cup mehr als ich, und ich werde es so lange probieren, bis es nicht mehr geht.“
Stanley-Cup- oder Ehering? Am besten beide, sagt Draisaitl
McDavid bildet jedenfalls mit Zach Hyman und Ryan Nugent-Hopkins die eingespielteste und damit wohl gefährlichste Sturmreihe der NHL. Wenn die vom Eis kommt, ist das in dieser Saison kein Wechsel, sondern ein Nachladen für die Oilers: Draisaitl wird mit den Zugängen Viktor Arvidsson (Los Angeles Kings) und Jeff Skinner (Buffalo Sabres) die zweite Reihe bilden, die nach Einspielzeit ähnlich gefährlich sein könnte. „Ihr müsst uns ein bisschen Zeit geben“, sagt Draisaitl: „Das sind super Jungs, aber es wird ein bisschen dauern, bis wir den Vibe gefunden haben werden.“ In Überzahlmomenten dürfte Coach Kris Knoblauch wieder seine beiden Stars gemeinsam aufs Eis schicken – das wäre dann nicht Nachladen, sondern ein Pistolero mit zwei Revolvern in den Händen.
Aus Niederlagen haben McDavid und Draisaitl nun ihrer Meinung nach zur Genüge gelernt. „Wir haben erlebt, wie intensiv so eine Finalserie ist, wie viel größer der Druck wird“, sagt Draisaitl, der nun nur noch eine Sache lernen will in seiner illustren Karriere: wie sich der größtmögliche Triumph anfühlt: „Ich kann mir nur vorstellen, wie das sein wird, wenn man es endlich schafft.“
Der 28-Jährige will den Rest seiner Laufbahn in Edmonton verbringen und den Rest seines Lebens mit Partnerin Celeste Desjardins – die beiden haben sich im Juli verlobt. Er will nicht sagen, welchen Ring er sich schneller am Finger wünscht: den fürs Eheversprechen oder den für die Meisterschaft. Mit Spitzbubenlächeln sagt er: „Das Ziel ist auf jeden Fall, beide zu kriegen.“

