Wer Leon Draisaitl lächeln sehen will, muss ihm nur diese alte Geschichte über Vater Peter erzählen. Olympische Winterspiele 1992 in Frankreich, die Mannschaft des Deutschen Eishockey-Bundes spielt im Viertelfinale gegen Rekordolympiasieger Kanada, nach 60 Minuten steht es 3:3. Die Deutschen, seit 1976 ohne Medaille, wachsen über sich hinaus, die TV-Reporter japsen. Die Verlängerung bleibt torlos, es kommt zum Penaltyschießen. Kanada geht 6:5 in Führung, jeder Fehler kann jetzt das Aus bedeuten, als Peter Draisaitl anläuft. Der Stürmer von den Kölner Haien, technisch einer der Besten, verlädt Kanadas Torwart Sean Burke - doch dann bleibt der Puck auf der Torlinie liegen und rutscht kein Millimeterchen mehr weiter, auch in der x-ten Zeitlupenwiederholung nicht. Es ist ein Jammer. Deutschland ist raus, Kanada steht im Halbfinale.
"Gute Geschichte", sagt Leon Draisaitl dann und grinst. Seinen Vater solle man aber besser nicht darauf ansprechen.
Seit nun fast drei Jahrzehnten ist der Name Draisaitl im deutschen Eishockey fest mit dieser Szene verbunden. Sohn Leon, drei Jahre nach Vater Peters olympischem Dramolett 1995 in Köln geboren, hat dem Stammbuch der Familie in der Nacht zu Dienstag nun ein neues, ungleich stolzeres Kapitel hinzugefügt. Als erster Deutscher hat der Stürmer von den Edmonton Oilers die Auszeichnung für den wertvollsten Spieler (MVP) der Hauptrunde in der nordamerikanischen NHL gewonnen, der besten und glamourösesten Eishockeyliga der Welt.
Überbringer der Hart Memorial Trophy war Oilers-Ikone Wayne Gretzky, der beste Spieler der Geschichte. Außerdem erhielt Draisaitl bei der virtuellen Zeremonie den Ted Lindsay Award, mit dem die Spielergewerkschaft NHLPA ihren Besten ehrt. Nach der wegen der Corona-Pandemie vorzeitig beendeten Hauptrunde hatte er bereits die Art Ross Trophy für den besten Scorer zugesprochen erhalten - in 71 Spielen gelangen ihm 43 Tore und 67 Vorlagen.
Draisaitl feierte damit eine dreifache Premiere: Nie zuvor hat ein Deutscher eine dieser renommierten individuellen Auszeichnungen eingeheimst, geschweige denn alle drei auf einmal. Der ehemalige Bundestrainer Marco Sturm, mit 1006 Partien deutscher Rekordhalter in der NHL und heute Assistenztrainer in Los Angeles, sagte: "Ich persönlich und jeder hier im Eishockey-Business in Amerika weiß, was das bedeutet. Es gibt keine bessere Eishockey-Liga als die NHL. Deswegen war Leon in dieser Saison der beste Spieler in der Welt. Das muss man sich einfach mal vorstellen: dass jemand sagen kann, er ist der beste Spieler der Welt." Draisaitl sagte dem TV-Sender NBCSN lediglich: "Ich bin sehr geehrt. Das ist eine große Ehre."
Gegen alle Klischees ist Draisaitl, wiewohl FC-Fan, kein Krachkölscher, keiner, der großes Aufheben um sich macht. Auf Fragen zu seiner Person antwortet er am liebsten, indem er seinen Sieben-Tage-Bart krault und sich am Arm zupft, bevor er die Mannschaft lobt. Nachdem er sich gefasst hatte, sagte er diesmal: "Das ist natürlich eine Riesensache für mich. Dafür arbeitet man hart. Es helfen einem auch so viele Leute auf dem Weg, Familie, Freunde, Trainer, so viele Dinge müssen genau richtig laufen."
Dass die beiden Auszeichnungen aus unterschiedlichen Ecken kommen, das hatte er schon bei seiner Nominierung betont, sei aber doch etwas Besonderes: Während die Hart Trophy von den NHL-Berichterstattern vergeben wird, entscheiden über den Lindsay Award die "Kollegen, gegen die du das ganze Jahr spielst". Deren Anerkennung ist Draisaitl, der in Nordamerika längst das Etikett Superstar trägt, wichtig. Und selten sind sich Journalisten und Profis so einig: In beiden Abstimmungen landete Draisaitl jeweils vor Nathan MacKinnon (Colorado Avalanche) und Artemi Panarin (New York Rangers), einem Kanadier und einem Russen, Spielern aus den beiden führenden Eishockey-Nationen.
"Ein außergewöhnlicher Tag für das deutsche Eishockey"
Draisaitl ist erst der zweite deutsche Profi in einer vier großen nordamerikanischen Sportligen, der als MVP geehrt wird. Vor ihm erlangte nur Basketballer Dirk Nowitzki diesen Status (2007). Nowitzki war zum Zeitpunkt seiner Auszeichnung bereits 29 Jahre alt. Draisaitl ist 24. Nachdem er im Draft, der jährlichen Talentbörse, 2014 als Dritter ausgewählt worden war, so früh wie kein Deutscher vor oder nach ihm, brauchte er einige Jahre, um sich in Nordamerika durchzusetzen. Mittlerweile ist er als Leader unumstritten, sowohl bei seinem Klub als auch im Nationalteam.
Bundestrainer Toni Söderholm sagt: "Leon hat in seiner Entwicklung weitere Schritte gemacht. Er übernimmt viel Verantwortung für die Mannschaft und hat gerade in einer Phase, als Connor McDavid verletzt war, die Mannschaft getragen." Erst in dieser Phase hätten sich die Oilers wirklich den Playoffs genähert. Nicht zuletzt sein Agent denkt, dass Draisaitl mittlerweile auf einer Stufe mit McDavid, 23, steht, dem vielleicht talentiertesten Spieler seiner Generation. Sportlich zumindest. Finanziell ist er ein paar Handvoll Dollar entfernt. McDavid verdient pro Jahr 12,5 Millionen, Draisaitl vier Millionen weniger. Sein Vertrag in Edmonton läuft noch bis 2025, heute könnte er wohl dasselbe Gehalt aufrufen wie McDavid - oder mehr. Was Draisaitl indes mehr reizt als persönliche Ehren oder noch mehr Geld, ist der Titel: "Wenn ich diese zwei oder drei Auszeichnungen zurückgeben könnte für einen Stanley Cup, würde ich das binnen eines Herzschlags machen", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Umso enttäuschender war für ihn das frühe Aus nach dem Restart der NHL. Dallas und Tampa Bay stehen im Finale, für die Oilers war in der ersten Runde Schluss.
Ein Titel mit dem Klub oder eine Medaille mit dem Nationalteam, das ist es, was Draisaitl antreibt. Nowitzki gewann 2011, mit 33, mit den Dallas Mavericks die NBA-Trophäe, erst danach begann sein Aufstieg zur Werbeikone und zum nationalen Sportdenkmal; 2011 wurde der Würzburger als erster Teamsportler zum deutschen "Sportler des Jahres" gekürt. "Dirk ist jemand, zu dem ich aufschaue", berichtete Draisaitl. "Es ist eine große Ehre, dass ich mit ihm in einer Reihe stehe."
Wie Nowitzki, der jeden Sommer zu Hause mit Mentor Holger Geschwindner an seinem Wurf arbeitete, schuftete Draisaitl vergangenes Jahr in Köln mit seinem Vater Peter. Vor allem seinen Torabschluss wollte er verbessern - was angesichts der olympischen Vergangenheit von Draisaitl senior nicht einer gewissen Ironie entbehrt. Das Extratraining hat sich nun ausgezahlt. "Es erfüllt auch den Verband mit großem Stolz, einen solchen Ausnahmesportler zu haben", formulierte DEB-Präsident Franz Reindl geradezu pastoral. Dieser Tag sei "ein außergewöhnlicher Tag für das deutsche Eishockey".